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Davor, zuvor, Vergangenheit

Der Weg zur Haltestelle ist beschwerlicher als erwartet und unser Tempo schleppend. Denn Frieda, die schon im Badezimmer müde und ausgelaugt gewirkt hat, setzt jetzt nur noch willkürlich einen Schritt vor den anderen und ich muss sie wohl oder übel den halben Weg tragen. Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber als ich mir Friedas Arm um die Schulter geschlungen habe, habe ich nicht damit gerechnet, dass sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich abstützen würde. Ich wollte ihr nur helfen aufrecht zu gehen, doch jetzt hängt sie schief auf mir drauf, was bestimmt etwas bizarr aussieht. Immerhin ist Frieda ein paar Zentimeter größer als ich und meine Statur wirkt auch nicht wirklich robust. Dennoch schleppe ich sie den ganzen Weg zur Bushaltestelle. Dort lade ich die betrunkene Frieda auf einer der mit Graffiti beschmierten Sitzgelegenheit ab. Es tut mir zwar leid, sie auf so einer Bank, die nicht selten auch noch durch andere Dinge beschmutzt sind, abzusetzen, aber ich hätte ihr Gewicht auf meinen Schultern keine Minute länger ausgehalten.

Auch wenn der Abend ein unglückliches Ende für Frieda genommen hat, haben wir jetzt Glück. Der letzte Bus der Linie 58 kommt gerade um die Ecke als ich einen Blick auf den Fahrplan werfen möchte und ich eile zu Frieda zurück, um sie aus dem stinkenden Haltestellenhäuschen zu retten, bevor der Bus zum Stehen kommen kann und wir einsteigen.

Der Busfahrer, ein etwas älterer Mann mit graumeliertem Haar und kleinen Lachfältchen um die blauen Augen, mustert uns nur kurz und scheint unsere Situation sofort zu verstehen. Denn er winkt uns einfach durch, ohne einen Blick auf unsere Fahrkarten zu werfen. Ich bedanke mich lächelnd, was er mit einem leichten Kopfnicken quittiert. Jetzt muss ich Frieda nur noch sicher in meine Wohnung bringen, ohne selbst einzuschlafen, was zu einer größeren Herausforderung werden könnte als gedacht. Der Bus, indem sich nur noch ein paar andere Leute befinden, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um zwei Jugendlichen irgendeine Beachtung zu schenken, strahlt so eine Ruhe aus, dass ich mich am liebsten an Frieda kuscheln und meine Augen einen Moment ausruhen würde. Hinzukommt noch das seichte Schuckeln des Busses. Doch der Umstand, dass sich Frieda neben mir schon im Reich der Träume befindet, hält mich wach. Sonst kommen wir am Ende gar nicht nach Hause.

Beim dritten Stoß schwingt die Eingangstür der Wohnung endlich auf, schlägt jedoch mit einem lauten Knall gegen die Wand von unserem Eingangsbereich. Wenn meine Mutter nicht schon bei meinen vorherigen Versuchen die Tür aufzukriegen aufgewacht ist, ist sie es jetzt mit Sicherheit. Aber ich bin zu müde, um mir darüber noch weitere Gedanken machen zu können. Der Abend hat mir mehr Energie geraubt, als ich anfänglich angenommen habe. Als ich Frieda allerdings durch unsere Wohnung zu meinem Zimmer schiebe, fällt mir ihr apathischer Blick auf. Womöglich waren das noch Auswirkungen des Alkohols, aber ich bin mir sicher, dass auch die emotionalen Strapazen ihren Teil dazu beitragen. Obwohl ich mir nicht ganz so sicher bin, wie viel Frieda von Evans abfälligem Kommentar mitbekommen hat und ob seine Bedeutung durch ihren vernebelten Verstand zu ihr durchgedrungen ist.

Im nächsten Moment kippt Frieda beinahe wieder um, fällt jedoch gegen mich und erschwert mir somit das Öffnen meiner Zimmertür etwas. Aber da ich Frieda schon so weit geschleppt habe, werde ich ganz sicher nicht so kurz vor dem Ziel aufgeben. Also richte ich sie wieder auf und lotse sie durch mein dunkles Zimmer zu unserem Ziel. Auch bekannt als mein Bett. Ich habe mich wirklich noch nie so sehr auf die vielen Kissen und die kuschlige Decke gefreut wie in diesem Moment. Den Gedanken an die Bequemlichkeit meines Bettes nachhängend, setze ich Frieda etwas ungeschickt auf meinem Bett ab und ziehe ihr die Stiefeletten von den Füßen. Sie fliegen beide mit einem lauten Rums in irgendeine Ecke meines Zimmers, ohne weiterhin darauf zu achten, ob meine Mutter von dem Lärm aufwachen könnte. Es ist Freitagabend und sie muss morgen so oder so nicht arbeiten, also ist es kein ganz so großes Problem, wenn das hier auch für sie eine schlaflose Nacht wird. Vielleicht mag das etwas egoistisch klingen, aber ich bin nicht die, die sonntagmorgens um sieben Uhr auf die Idee kommt staubzusaugen. Außerdem ist diese Nacht eine Ausnahme und wird ganz sicher nicht zur Regel.

Meine Aufmerksamkeit kehrt zur ausgepowerten Frieda zurück, die sich einfach nach hinten auf mein Bett fallen lassen hat und anscheinend schon eingeschlafen ist. Das einzige Problem daran: sie liegt queer auf dem Bett. Heißt kein Platz für mich. Doch das ist natürlich kein Problem, das nicht behoben werden kann. Ächzend drehe und schiebe ich an ihr herum, bis sie richtig und auf einer Seite der Matratze liegt. Endlich. Nur wäre ich naiv, wenn ich denken würde, dass ich mich jetzt neben meine beste Freundin kuscheln und meinem langersehnten Schlaf nachkommen könnte.

Nachdem ich meinen Mülleimer neben das Bett und in Friedas Reichweite gestellt habe, muss auch ich mich noch bettfertig machen, bevor ich mich schließlich zu Frieda lege. Aber obwohl meine Müdigkeit mich in die Tiefen meiner Träume ziehen möchte, kann ich kein Auge zu machen.

Die Gedanken an die Ereignisse der letzten Stunden schwirren noch immer in meinem Kopf umher, ohne Aussichten darauf von selbst zu verschwinden. Also hänge ich diesen Gedanken nach. Gedanken, die sich eigentlich nur um eine Sache drehen. Gedanken, die sich nur um Finley drehen. Evans und Friedas Drama gerät in den Hintergrund meines Bewusstseins und dadurch begreife ich erst jetzt wirklich, was dieser Abend für mich bedeutet hat. Ich bin seit Monaten keinem Jungen mehr so nahegekommen, wie Finley heute. Seit Monaten habe ich jeden Jungen auf Abstand gehalten, in der Angst, dass meine Erinnerungen zurückkommen könnten. Finley. Er hat etwas an sich, dass alles verändert hat. Und im selben Moment drängt sich ein Gedanke an die Oberfläche. Ein Gedanke, der mehr eine Erinnerung ist. Eine Erinnerung, die den heutigen Abend in dunkleren Tönen zeichnet. Er war auch so. Am Anfang war er auch so. Ein schrecklicher Gedanke, der mich nicht mehr loslässt. Ich möchte ihn verbannen. An den Ort schicken, an dem all die Erinnerungen an ihn verborgen sind, doch es ist schon zu spät. Jeder Gedanke an Finley scheint jetzt vergiftet. Ich sehe Parallelen zwischen den beiden, die mir zuvor gar nicht aufgefallen sind. Parallelen, die mich stutzig werden lassen.

Falle ich auf ein ähnliches Muster rein? Durch eine meiner vielen Internetrecherchen habe ich herausgefunden, dass Frauen, die sich einmal auf so eine Art Mann eingelassen haben, sich immer wieder von der gleichen Art verarschen lassen. Doch das könnte auch nur auf Erwachsene zutreffen. Oder? Ich bin doch noch eine Jugendliche. Und Internetrecherchen und die damit verbundenen Selbstdiagnosen sind häufig nichts als irreführend. Also kompletter Blödsinn. Aber wird sich die Geschichte wiederholen? Wird sich unsere Beziehung, oder was das auch immer jetzt zwischen uns ist, in die gleiche Richtung entwickeln? Die Angst krabbelt in mir empor und lässt unangenehme Schauer über meinen Körper laufen, als ich mich an Finleys kalten und teilnahmslosen Blick erinnere, mit dem er mich heute auf der Party betrachtet hat. Er hat mich auch so angesehen... Aber Finley war nur verletzt gewesen und hätte nicht jeder so reagiert? Es war doch nur eine Art und Weise sich selbst zu schützen... Oder?

Ich gebe es auf, weiterhin diesen negativen Gedanken nachzuhängen. Was würde es mir auch bringen? Eben. Rein gar nichts. Die Zeit lässt sich auch zum Schlafen nutzen und so verfalle ich mit gemischten Gefühlen in einen unruhigen Schlaf.

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt