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Danach, gegenwärtig, Gegenwart

Meine Finger verkrampfen sich um den Bleistift. Ich weiß noch, wie man schreibt. Natürlich weiß ich das. Nur habe ich vergessen, wie verdammt anstrengend das ist.

Der Stift scheint sich nur führen zu lassen, wenn ich ihn mit ganzer Kraft festhalte und dennoch habe ich das Gefühl, die Worte eher in die Seiten des Notizheftes einzuritzen als wirklich auf dem Papier zu schreiben. Vielleicht sollte ich es auch einfach sein lassen, das Heft und den Stift bei Seite legen und weiter Löcher in die Luft starren, bis von der Luft nichts mehr übrig ist. Nur dass sich dann wieder meine Gedanken anfangen zu drehen, wie ein Karussell. Wie ein Karussell, das sich unendlich lange dreht und droht nie wieder aufzuhören. Es ist beängstigend und darum habe ich das Notizheft aufgeschlagen. Frau Freud hat es mir bei ihrem letzten Besuch dagelassen. Und vor ein paar Minuten habe ich es zum ersten Mal aufgeschlagen, die ersten Seiten glattgestrichen und mir einen Bleistift von dem kleinen Tischchen genommen. Dann habe ich angefangen zu schreiben oder besser gesagt zu ritzen. Zuerst habe ich wahllos alle meine Gedanken aufgeschrieben, ohne sie zu filtern geschweige denn zu ordnen. Aber schon wenige Minuten später habe ich versucht eine Struktur in das Wirrwarr meiner Gedanken zu bringen. Die ersten Seiten gehören ganz allein mir, jede Erinnerung, die mit niemand anderem außer mir zu tun hat, schreibe ich hier auf. Sei es mein Lieblingsessen, irgendeine Gewohnheit oder sonst eine Information. Sie kommen in dieses Heft, damit sich mein Kopf nicht mehr damit beschäftigen muss und meine Kopfschmerzen weniger werden.

Ich neige meinen Kopf etwas zur Seite und ziehe nachdenklich meine Augenbrauen zusammen. Kann es wirklich sein, dass ich nur noch solche nichtigen Dinge über mich weiß? Zum Beispiel, dass ich jeden Morgen schwarzen Tee trinke. Vielleicht muss ich mich aber auch mit solchen Informationen einfach zufriedengeben. Der Rest wir bestimmt auch noch folgen. Und in der Zeit? Na ja, es gibt noch weitere Seiten in diesem Heft, die ich versuchen könnte zu füllen. Also schlinge ich mir meine Haare zu einem Dutt und mache mich an die Arbeit. Ich weiß, dass ich eine Schwester habe. Sie heißt Ellie. Ich schlage eine unbeschriebene Seite auf und starre auf das cremefarbene Papier. Es verströmt noch den Geruch von frisch gebundenen Büchern und ich schließe kurz meine Augen. In der sonst so sterilen Krankenhausumgebung ist mir so ein abwechslungsreicher und doch so vertrauter Eindruck sehr willkommen.

Ich wende mich wieder dem Namen in dem Notizbuch zu. Ellie ist eine der Personen, an die ich mich noch erinnern kann. Sie ist in der Psychiatrie meinte meine Mutter, aber da war noch mehr. Sie sollte an dem Abend des Unfalls entlassen werden. Was wiederum heißt, dass sie schon in der Psychiatrie war bevor ich ins Krankenhaus gekommen bin. Ob ich sie wohl besucht habe? Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern es getan zu haben. Doch mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Es ist das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich Frau Freud erzählt habe, dass ich keine Freunde habe. Mein Kopf scheint zu merken, dass ihm die ein oder andere wichtigere Erinnerung abhandengekommen ist. Nur welche das sind, weiß auch mein Kopf nicht. Aber darüber kann ich mich später noch wundern. Ich schiebe diese Gedanken entschlossen beiseite und versuche mich erneut zu konzentrieren.

Der Regen prasselt gegen die Scheibe und hört sich an wie eine Menge, die mich anfeuert schnell weiter zu denken. Das einzige Problem – zu Ellie möchte mir einfach nichts mehr einfallen. Aber... aber vielleicht gibt es ja noch jemand anderen. Vielleicht hatte ich ja einen Freund. Und als hätten meine Erinnerungen an diesem vermeintlichen Freund nur darauf gewartet geweckt zu werden, stürzen sie wie ein Wasserfall alle auf einmal auf mich nieder. Da war ein Freund. Tom. Ich schreibe schnell alle meine Gedanken über diesen Tom auf eine frische Seite. Die Bleistiftmine scheint beinahe zu glühen, so viel fällt mir zu Tom ein. Er war mein erster Freund. Doch was sich nach und nach auf diesen Seiten über Tom abzeichnet, macht mir Angst. Diese Erinnerungen sind definitiv nicht positiv. Und ich traue mich erst wieder langsam auszuatmen als mir zum Glück auch noch einfällt, dass ich mit dieser Person nichts mehr zu tun haben muss. Sie ist nicht mehr in meinem Leben. 

Nicht mehr in meinem Leben. 

Nicht mehr in meinem Leben? 

Diese Erinnerung, diese Worte scheinen einen Dominostein angestoßen zu haben, dann ein neuer Schwall an Erinnerungen ergießt sich über mir und hinterlassen einen schalen Geschmack in meinem Mund. Da war noch jemand, der nicht mehr in meinem Leben beziehungsweise nie in meinem Leben war. Mein Vater. Er hat mich nie kennengelernt und hatte anscheinend auch nie Interesse daran, sonst hätte er doch etwas daran geändert, oder? Oder? Sein Verrat und Toms Vergehen haben etwas in mir kaputt gemacht und gleichzeitig einen Hass gepflanzt. Ich habe nicht nur die beiden gehasst. Nein, dieser Hass hat sich auf alle Jungen und Männer ausgeweitet. Aber ein Puzzleteil passt nicht. Egal wie ich es drehe und wende, ich kann nicht bestreiten, dass dieser Hass einfach nicht mehr da ist. In meiner Brust lodert nichts, da ist eiskalt. Wo ist dieser Hass? Es muss jemand gegeben haben, der ihn mir genommen hat. Ich selbst wäre nicht in der Lage zu so etwas. Aber mit der Hilfe von jemand anderem... 

Es muss eine Person gegeben haben, die meinen Hass durch etwas ersetzt hat und dieses neue Etwas dann aus meiner Brust gerissen hat. Anders kann ich mir die Kälte nicht erklären, die dort jetzt herrscht. Ob das Etwas wohl Liebe war?

Meine Bleistiftspitze bricht ab.

Ich habe den Stift zu verkrampft gehalten. Ich... die Verzweiflung, die sich in mir breit macht, kann ich nicht aufhalten, sie schnürt mir die Kehle zu und treibt mir Tränen in den Augen. Dieser verdammte Unfall hat mir etwas genommen, und zwar so viel mehr als nur meine Erinnerungen. Denn mit den Erinnerungen sind auch die Personen verschwunden. Wie Rauchschwaden wurden sie von dem Wind davongetragen und in alle Himmelsrichtungen verstreut. Mein ganzer Körper, mein Denken wurde von der Verzweiflung durchseucht und jetzt wartet genau diese Verzweiflung darauf, aus mir herauszubrechen. Also greife ich mit tränen verschleiertem Blick nachdem nächstgelegenen Gegenstand. Das Notizheft, dessen einziges Verbrechen die Dinge sind, die ich dort hineingeschrieben habe. Ich schmeiß es gegen die Wand, gebe der Verzweiflung nach.

Mit einem dumpfen Knall landet es auf dem Boden und der Regen applaudiert. Nur die Verzweiflung in mir hat noch nicht genug. Sie bleibt vehement, hält jetzt mein Herz in ihren eisernen Klauen und als würde ich diesen Schmerz noch vertiefen, auf eine andere Ebene heben wollen, nehme ich die Bilder der bekannten Fremden von meinem Nachttisch. Ich werde sie nicht gegen die Wand werfen, welchen Nutzen hätte es auch. Sie sind das Einzige, was ich noch von meinen Freunden habe und weil es mir noch nicht gelungen ist, die Erinnerungen an sie zurückzubekommen, muss ich mich mit diesen Fotografien zufriedengeben. Auf ihre Rückseiten habe ich die Namen geschrieben, die mir Frau Freud verraten hat, in der Hoffnung, dass mir mein Kopf die eine oder andere Erinnerung zurückgibt. Doch mein Kopf war standhaft geblieben und ich in Tränen ausgebrochen. Jetzt schaue ich mir diese Bilder hin und wieder an und rätsle welcher Name, zu welchem Foto gehört.

Frieda muss definitive der Name des rothaarigen Mädchens sein, so viel war mir von Anfang an klar. Die anderen drei Namen waren die, die mir Kopfschmerzen bereitet haben, bis ich mich mit mir selbst darauf geeinigt habe, dass der Junge mit den blonden Haaren Finley, der mit den braunen Evan und der letzte, schwarzhaarige, David sein musste.

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt