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Davor, zuvor, Vergangenheit

Der Wald sieht aus wie ein knochiges Gestrüpp. Weiße Nebelschwaden geistern zwischen den kahlen Ästen umher und verleihen der Umgebung eine fantastische beinahe gruselige Atmosphäre. Auch die Bushaltestelle wirkt verlassen und das Haltestellenschild schwingt quietschend im kalten Wind sachte hin und her. Perfektes Setting für einen Horrorfilm. Es fehlt nur noch die angsteinflößende Gestalt.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Es sind erst drei Minuten vergangen, das heißt in 12 Minuten kommt der Bus und Finley hoffentlich auch. Wir wollten zusammen fahren, doch bei ihm ist etwas dazwischen gekommen, weswegen er erst den zweiten Bus nehmen konnte, ich jetzt alleine in der Kälte sitze und bereue nicht noch einen Pullover angezogen zu haben. Das Wetter und ich sind keine Freunde, andernfalls würde ich immer die passende Kleidung für das jeweilige Wetter anziehen. Aber wie wir wissen stirbt die Hoffnung nie und so hoffe ich, dass doch der revolutionäre Tag kommen wird, an dem ich weder friere, noch schwitze, weil ich wieder das falsche anhabe.

Ein Knacken der Äste beendet abrupt meine Gedanken und lässt mich erschrocken zusammenzucken. Was war das?

Mein Blick sucht die nähere Umgebung ab, aber da ist nichts und niemand zu sehen. Ich bin ganz alleine.

Nach einer gefühlten gruseligen Ewigkeit erblicke ich endlich den Bus, wie er um die Kurve kommt und direkt vor mir hält. Keine Sekunde länger hätte ich es hier ohne Finley ausgehalten.

Der Wald ächzte und stöhnte die ganze Zeit wie eine alte Frau und so konnte ich nicht einmal mehr ein Buch lesen. Doch ein gutgelaunter Finley, der gerade aus dem Bus aussteigt, hellt meine Stimmung wieder etwas auf.

„Na? Hast du dich schon mit den Bewohnern des Waldes angefreundet?", fragt er auch schon als er vor mir zum Stehen kommt.

Ich lächle schwach. Schon seine bloße Anwesenheit lässt den Wald weniger grau und angsteinflößend wirken. Es ist als würde er ein immerwährendes Licht in sich tragen, das alles heller und besser macht.

„Natürlich! Siehst du diese abgemagerte Krähe dort drüben, die droht gleich vom Ast zu kippen?", frage ich und deute auf einen schwarzen Vogel, der es sich auf einem Ast bequem gemacht hat und wirklich etwas abgemagert wirkt. Vom Ast wird er in nächster Zeit zwar nicht kippen, aber man hat ja auch seine erzählerischen Freiheiten. „Ich habe sie Hugin getauft."

„Hugin? Und wo hast du Mugin gelassen?", fragt Finley mit leicht ironisch verzogenem Mund.

„Du erfüllst wirklich das Klischee eines Norwegers. Sogar mit der nordischen Mythologie kennst du dich aus", sage ich mit einem erstaunten Ausdruck. „Mugin sitzt gleich dort drüben. Er ist etwas molliger, aber sie beide haben Probleme mit dem Gleichgewicht."

Woher ich diesen Humor nehme, weiß ich auch nicht, aber vielleicht haben mich diese zwölf Minuten in der gruseligen Einsamkeit auch nur verrückt werden lassen. Oder die Kälte hat wichtige Teile meines Gehirns eingefroren und darum fallen mir heute besonders witzige Witze ein.

„Wenn, du liebe Julie, dich mit nordischer Mythologie auskennen würdest, würdest du wissen, dass die Vögel von Odin keine Krähen, sondern Raben sind."

Mit einer belehrenden Mine betrachtet er mich, doch in seinen Augen spiegelt sich Belustigung und erinnert mich an den Grund, wieso ich mein Gewissen unter Finley stellen könnte. Er ist einfach er. Nichts an ihm wirkt falsch oder aufgesetzt. Natürlich haben wir alle etwas zu verbergen, doch was immer es ist, das Finley hin und wieder die Fröhlichkeit aus dem Gesicht fegt, gilt es herauszufinden, aber ich glaube kaum, dass es etwas an seiner Wahrhaftigkeit ändern würde.

Auf Finleys Belehrung erwidere ich nichts als ein Schulterzucken gepaart von einem unschuldigen Lächeln. Wenn man eben keine Raben zur Verfügung hat, müssen wohl auch Krähen reichen.

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt