Davor, zuvor, Vergangenheit
Ich öffne meine Augen und Evans Hand hängt genau vor mir in der Luft. Seit wann habe ich telekinetische Fähigkeiten? Mein Blick wandert an seinem Arm empor und ich verstehe, wieso seine Hand in der Luft hängt. Eine andere Hand umschließt seinen Unterarm. Lange, elegante Finger. Ich blicke nach links, fest davon überzeugt gleich in Davids braune Augen zu blicken, aber es sind keine braunen Augen, es sind grüne. Ein blonder hochgewachsener Junge lächelt mich verlegen an. Verwirrt schüttle ich meinen Kopf und blinzle ein paar Mal um sicherzugehen, dass ich mir das gerade nicht einbilde. Vor mir steht der wohl attraktivste Junge, den ich je gesehen habe.
"Es ist nicht höflich ein Mädchen zu berühren oder zu ... bedrängen."
Seine Stimme ist tief und seinen Worten haben einen ungewöhnlichen Klang, als hätte er sich noch nicht ganz an den deutschen Singsang gewöhnt.
Evan schaut ihn irritiert an, reißt seine Hand los und mustert den Neuankömmling abschätzig. Der jedoch scheint nicht sehr beeindruckt von Evan und den anderen Jungs zu sein. Er wendet sich wieder mir zu und mustert mich, als würde er sicher gehen wollen, dass es mir gut geht.
"Und du bist?", fragt Evan abfällig.
Seine Gruppe steht hinter ihm, bereit auf den Retter loszugehen, wenn er etwas Falsches machen sollte.
"Ich heiße Finley."
Finley dreht den Kopf und sein Blick scheint Evan zu durchbohren.
"Ich weiß Finley, du bist noch nicht lange hier, aber du solltest mir nicht in die Quere kommen. Es geht hier etwas anders zu als in Schweden."
Wieder liegt in Evans Stimme dieser abfällige Unterton. Finley legt den Kopf leicht zur Seite und ein kleines Grinsen schleicht sich auf seine Lippen.
"Norwegen", ist das einzige, was er sagt und Evan zieht fragend seine Augenbrauen nach oben.
Das Ganze scheint Finley eher zu amüsieren und sein Grinsen wird breiter, als er mir einen kurzen Blick zu wirft. Seine grünen Augen blitzen auf und er streicht sich durch die blonden Haare. Er kommt aus Norwegen? Aber woher weiß Evan, dass Finley nicht aus Deutschland kommt?
"Hör zu, mir ist egal, ob du aus Norwegen, Schweden oder Dänemark kommst, aber hier mache ich die Regeln."
Dieses Mal ist kein abfälliger Unterton zu hören. Nein. Er klingt ... verunsichert? Er ist es wahrscheinlich gewohnt, dass man Angst vor ihm hat, aber Finley strahlt pure Gelassenheit aus. Entweder er ist sich nicht ganz klar, in was für einer misslichen Lage er sich befindet oder es ist ihm schlicht weg egal.
"Du möchtest sicher gehen?", fragt Finley an mich gerichtet und ignoriert Evans Aussage.
Ich drehe mich zu dem Mädchen, das immer noch neben mir steht und ziehe sie am Arm hinter mir her.
Als wir nur noch wenige Meter von der Kantine entfernt sind, bleibe ich stehen und lasse sie los. Mein Herz hat sich wieder beruhigt und klopft in einem stetigen Tempo. Zwei Mistkerle an einem Tag sind zwei Mistkerle zu viel. Wenn ich nur daran denke, dass ich mit diesen beiden Doofköpfen die nächsten zwei Jahre verbringen muss, wird mir übel. Dieser Finley hingegen scheint ja ganz nett zu sein. Sofern das männliche Geschlecht überhaupt dazu fähig ist.
"Echt cool, wie du dich mit Evan angelegt hast. Ich bin übrigens Frieda."
Ihre Stimme klingt tiefer und weniger schrill, als zuvor. Jetzt, wo sie nicht mehr von Angst und Panik beherrscht ist, nehme ich auch ihre rebellische Ausstrahlung wahr. Die Art und Weise, wie sie dasteht, die Schultern stolz nach hinten geschoben, das Kinn widerspenstig angehoben und die Augen, die nur so funkeln vor Selbstbewusstsein und Intelligenz.
"Julie und das war doch selbstverständlich. Jedes andere Mädchen hätte genauso gehandelt", erwidere ich und hebe meine Schultern, um zu verdeutlichen, dass es keine große Sache ist. Was es ist, ich möchte nur nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen hat oder denkt, dass sie in irgendeiner Weise in meiner Schuld steht.
"War es nicht. Jedes andere Mädchen wäre einfach vorbeigelaufen und hätte Evan vielleicht sogar noch schöne Augen gemacht. Sie haben zu große Angst davor Evan zu verärgern, denn wenn sie Evan verärgern, hat der natürlich keine Lust mehr mit ihnen zu schlafen und sein bester Freund David wäre auch tabu."
Wenn es stimmt, was Frida erzählt, kann ich über diese Gier, mit einem dieser Dreckskerle zu schlafen, nur traurig den Kopf schütteln. Ich kann nicht glauben, dass die Mädchen an dieser Schule so wenig Zusammenhalt besitzen. Wir sind junge emanzipierte Frauen, die sich nicht in den Rückenfallen sollten, wegen ein paar Jungs.
"Ich kann nicht glauben-..."
"Hier seid ihr!"
Ich drehe mich um und sehe, wie Finley auf uns zu kommt. Er hat immer noch dieses Grinsen auf den Lippen, als würde ihn alles amüsieren, aber in seinen Augen liegt etwas Ernsthaftes. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Grinsen und die lässige, leicht gelangweilte Haltung nur kaschieren soll, was er in seinem Innersten verbirgt. Und vielleicht hat er wegen genau dieser Sache, keine Angst vor Evan, vor seinen leeren Drohungen.
Frida, die neben mir steht, lächelt Finley an und neigt den Kopf leicht zur Seite. Sie scheint abschätzen zu wollen, wieso er uns geholfen hat, was ihn dazu bewegt hat und was er mit Evan gemacht hat. Ihrem Blick zu Urteil vermute ich, dass es selten ist, dass jemand sich mit Evan anlegt, ohne mindestens ein blaues Auge zu bekommen. Ihre nächsten Worte bestätigen meinen Verdacht.
"Was hast du mit Evan gemacht? Du siehst nicht gerade danach aus, als hätte man dich zusammengeschlagen."
Finley zuckt darauf nur lässig mit den Schultern und lächelt unschuldig. Ich hätte nie gedacht, dass ein unschuldiges Lächeln bei einem Jungen so gut aussehen kann.
"Ich habe ihm ein bisschen etwas über den Wert der Frau erzählt. Er wusste nicht sehr viel darüber, dann kam David vorbei. Wahrscheinlich ist er der Grund, wieso ich hier stehe und nicht in irgendeiner Ecke sitze und mir meine Wunden lecke."
Dafür, dass er aus Norwegen kommt, spricht er ziemlich gut Deutsch. Kommt er wirklich aus Norwegen? Denn so gut spricht niemand, der Deutsch nur in der Schule gelernt hat. Ich kneife meine Augen leicht zusammen, um einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass er wirklich aus Norwegen kommt und so gut Deutsch spricht. Als Finley meinen Blick bemerkt, zieht er seinen Mundwinkel belustigt nach oben.
"Meine Mutter kommt aus Deutschland, ich bin zweisprachig aufgewachsen", erklärt er.
Kann er Gedanken lesen? Ich ziehe meine Augenbrauen verwundert zusammen. Das wäre absurd.
"Man sieht, was du denkst. Es ist, als würde ganz groß auf deiner Stirn stehen, was dir gerade durch den Kopf geht."
Er macht einen Schritt auf mich zu und tippt mir sanft gegen die Stirn. Ich erschaudere, doch anders als zuvor, ist es ein angenehmes Erschaudern, keine Erinnerung wird bei mir hervorgerufen und meine Kehle wird auch nicht trocken.
"Wie heißt ihr eigentlich?"
Finley schaut von mir zu Frida, nur um mich dann wieder anzusehen.
"Frida. Julie", stellt Frida uns beide vor und zeigt erst auf sich und dann auf mich.
Ich will gerade ansetzen mich bei Finley für seine Rettung zu bedanken, als David um die Ecke kommt und sich mein Blick verdunkelt. Diesen Typen kann ich nicht ausstehen, auch wenn ich ihn noch nicht richtig kennengelernt habe. Finley sieht meinen finsteren Blick und dreht sich zu David um. Für einen kurzen Moment hält David inne, ein trauriger Ausdruck huscht über sein Gesicht und das Lächeln gefriert. So schnell, wie der Moment gekommen war, verschwindet er auch wieder. Vielleicht habe ich mir das gerade auch nur eingebildet.
David geht auf Finley zu und die beiden begrüßen sich mit einer kurzen Umarmung, mir nickt er nur kurz zu. Wie kann jemand wie Finley mit jemandem befreundet sein, der so ist, wie David? Die Frage ist nur, wie ist David wirklich? Finley wirft mir einen kurzen Blick zu und lächelt warm.
"Er ist mein Austauschpartner."
Anscheinend hat er mir schon wieder meine Gedanken vom Gesicht abgelesen.
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may i love him
Teen FictionIn Julies Augen sind alle Jungs gleich, und zwar gleich schrecklich. Doch als sie die Schule wechselt und am ersten Schultag dem norwegischen Austauschschüler Finley über den Weg läuft, ändert sich einiges. Sie beginnt ihre Abneigung gegenüber Jungs...