8.

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Danach, gegenwärtig, Gegenwart

Dieses Mal wache ich langsamer auf. Meine Augen haben genug Zeit sich blinzelnd an das Licht zu gewöhnen, das durch die weißen Vorhänge in das Krankenhauszimmer fällt. Nicht mein Zimmer. Auch wenn sonst niemand in diesem Zimmer liegt, bringe ich es nicht übers Herz es meins zu nennen, denn dann würde ich diese Situation akzeptieren. Und dazu bin ich noch lange nicht bereit. Nicht bis ich herausgefunden habe, wieso ich hier bin und was genau passiert ist.

„Na, mein Schatz?", fragt eine sanfte, vertraute Stimme.

In meinen Gedanken vertieft und meiner Ungewissheit schwelgend habe ich gar nicht bemerkt, dass meine Mutter neben dem Bett sitzt und mich mit einem liebevollen Blick betrachtet. Nein, nicht liebevoll. Mitleidig.

„Hallo, Mama", probiere ich die ersten Worte zu bilden.

Sie gehen mir schleppend über die Lippen und hören sich ungewohnt rau an. Meiner Mutter laufen Tränen über die Wangen. Tränen der Freude? Ich weiß es nicht. Sie sitzt dort zu meiner linken, mit einem ihrer blauen Pullover und einer beigen Chinohose. Ihr ganzes Aussehen wirkt so normal. Sie sieht einfach aus wie immer, als hätte sich nichts verändert. Aber etwas hat sich verändert, ich kann es spüren.

„Jedes Mal, wenn ich gekommen bin, hast du geschlafen. Ich hatte so große Sorge, dass du nie wieder deine Augen aufmachen würdest. Dass ich nie wieder eine Chance haben würde mit dir zu sprechen."

Die Worte meiner Mutter treiben auch mir Tränen in die Augen, aber ich blinzle sie entschlossen weg. Jetzt da jemand da war, dem ich Fragen stellen konnte, musste ich diese Chance ergreifen.

„Mama, was ist passiert?"

Auch dieses Mal klingt meine Stimme brüchig. Vielleicht ist es doch noch zu früh für die Fragen, aber verdammt, ich brauche Antworten. Ich brauche Antworten, sonst würde ich hier noch durchdrehen.

„Ich... Julie, es ist so. Ich darf dir leider nichts Genaueres über den Vorfall sagen. Die Ärzte haben bedenken, dass zu früh, zu viele Informationen deinen Heilungsprozess einschränken könnten."

Das kann nicht sein! Das darf nicht sein. Wie soll ich gesund werden, wenn ich nicht weiß, was passiert ist. Und was muss passiert sein, dass das Wissen darüber meine Heilung beeinträchtigen könnte? Zwar war ich noch nie der gewalttätige Typ, aber mein Drang etwas kaputtzumachen, ist gerade überwältigend und nur die Infusionsnadel in meinem linken Arm hält mich davon ab, sofort aufzuspringen und etwas gegen die Wand zu schmeißen. Auch der Gedanke, an die Kopfschmerzen, die mich schon quälen, wenn ich mich nur aufsetze, lassen diesen Plan weniger befriedigend erscheinen. Also balle ich einfach nur meine Hände zu Fäusten, um wenigstens einen Teil meines Frustes abzulassen. Eine weitere Frage schlängelt sich durch den Wirrwarr meiner Gedanken. Unabhängig von dem, was passiert ist, was ist mit mir passiert? Was hat es mit den Kopfschmerzen auf sich? Wieso hat meine Mutter sich Sorgen darüber gemacht, ob ich überhaupt wieder aufwache?

Ana legt ihre Hand auf meine. Aber ich habe diese Geheimniskrämerei satt. Ich weiß nichts. Und sie sagt mir nichts, lässt mich einfach alleine in meiner Unwissenheit. Ich fühle mich im Stich gelassen und schlage ihre Hand weg. Wenn sie für mich da sein möchte, soll sie meine Fragen beantworten. Ich schaue überall hin, nur sie nicht an und dann fällt es mir auf. Etwas fehlt, als wären meine Mutter und ich nur vollständig, wenn noch eine weitere Person bei uns ist. Ich zermartere mir den Kopf auf der Suche nach der fehlenden Person. Mein Vater kann es nicht sein, denn der war noch nie ein Teil unserer kleinen Familie. Nein. Es ist Ellie die fehlt.

„Mama, wo ist Ellie?"

Ich schaue sie direkt an. Ihre braunen Augen wirken ausdrucksloser als sonst. Und als sie jetzt angestrengt ausatmet, sehe ich, wie sehr das alles auch an ihrer Kraft zerren muss. Ich weiß noch, wie sie sich in die Arbeit als Ärztin gestürzt, alles für diesen Job gegeben hat. Und das war vor dem Unfall. Wahrscheinlich gibt sie immer noch alles für ihre Patienten, nur das jetzt auch noch eine Tochter hinzukommt, die im Krankenhaus liegt. Beinahe wie Ellie.

„Ellie sollte an dem Abend des Unfalls entlassen werden, aber wegen des Unfalls und allem anderen haben sich die Psychologen darauf geeinigt, dass es das Beste wäre, wenn sie doch noch eine Zeitlang in der Klinik bleiben würde. Auch für Ellie ist es schwer."

Eine weitere Sache, die mit dem Unfall in Verbindung steht. Nur dass ich nicht im Traum daran gedacht hätte, dass das auch Ellie beeinflussen könnte. Sie war doch so gut wie gesund. Sie wäre an diesem Abend nach Hause gekommen. Wir wären wieder die kleine Familie gewesen. Ich bin schuld daran. Dieser Gedanke verändert alles. Denn alle weiteren Gedanken befinden sich auf einer Abwärtsspirale. Nur weil ich anscheinend Opfer dieses Unfalls war, muss Ellie noch länger in der Psychiatrie bleiben. Oder... und dann entsteht der nächste beängstigende Gedanke. Was, wenn ich wirklich tot bin? Und das alles ist eine makabre Zwischenwelt? Meine Mutter ist wahrscheinlich nur der Bote, der mir erzählt, wie es in der Welt ohne mich weitergeht. Aus dem Grund darf sie mir auch nicht erzählen, was passiert ist. Weil es sowieso keine Rolle spielt. Nichts spielt noch eine Rolle, wenn ich tot bin! In diesem Moment ergibt mein instabiles Gedankenkonstrukt so viel Sinn. Nur macht es mir Angst. Bin ich wirklich nicht mehr am Leben? Die ersten Tränen laufen über meine Wangen und ich blicke meine Mutter verzweifelt an.

„Bin ich tot?"

Meine Mutter springt auf und umarmt mich liebevoll. Ich fühle mich so verdammt zerbrechlich.

„Oh Gott, mein Schatz, nein, du bist nicht tot", flüstert sie. „Du bist lebendig. Am Leben."

Zuerst zweifle ich an ihren Worten. Was, wenn das alles zur Zwischenwelt dazugehört? Aber dann wird auch mir bewusst, wie abgedreht meine Gedanken sind. Ana löst sich langsam von mir und sinkt zurück auf den Stuhl. Ihr Geruch umgibt mich immer noch und ich fühle mich das erste Mal seit dem Unfall geborgen.

„Schau mal, was ich dir mitgebracht habe."

Meine Mutter hebt ein Buch in die Luft. Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Mein Lieblingsbuch.

„Da Lesen dein Gehirn überanstrengen könnte, habe ich mir überlegt, dass ich dir jedes Mal, wenn ich dich besuchen komme, ein paar Seiten daraus vorlesen könnte. Was hältst du davon?" 

may i love himWo Geschichten leben. Entdecke jetzt