Davor, zuvor, Vergangenheit
Nachdem ich mich mit viel Kraft gegen die Wohnungstür lehne schwingt sie schwungvoll auf und ich kann mich im letzten Moment noch abfangen, bevor ich in die Wohnung falle. Donnernd schmeiße ich die Tür zu, gefolgt von einem. „Ich bin wieder zu Hause, Mama!"
Meine Schuhe werden im Schrank verstaut, ebenso meine Jacke, mein Schal und meine Mütze. Den Rucksack geschultert, schlendere ich in unsere Küche und finde meine Mutter am Esstisch sitzend vor. Sie blickt von ihrem Buch auf und ein mildes Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen als sie meine etwas erschöpfte Gestalt im Türrahmen erblickt.
„Na? Wie war der erste Schultag? ...das schien ja kein so langer Schultag gewesen zu sein", fügte sie nach einem kurzen Blick auf die Uhr hinzu.
Ich schüttle den Kopf und lasse mich auf den Stuhl ihr gegen über nieder. Ihre blonden Haare trägt sie in einem unordentlichen Zopf, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst haben und ihr angestrengtes Gesicht umrahmen. Genau die gleichen blonden Haare, die meine Schwester und ich von ihr geerbt haben und uns sofort als Geschwister zu erkennen geben. Aus braunen erschöpften Augen blickt sie mir entgegen und wartet auf meine Antwort.
„Das übliche. Würde ich sagen. Ich habe viele neue Leute kennengelernt, aber... ansonsten ist nichts Spannendes passiert."
Natürlich könnte ich ihr von der Auseinandersetzung mit Evan erzählen und wie Finley mich gerettet hat oder von meinem ersten Zusammentreffen mit David. Aber wenn ich ihr erzähle, was Davids Nähe in mir ausgelöst hat, müsste ich ihr auch erzählen, was vor den Sommerferien passiert ist und das möchte ich bestimmt nicht.
„Das freut mich."
Ihr Blick wandert zu dem Buch, was immer noch vor ihr auf dem Tisch liegt und ich spüre das Desinteresse, das in diesem kurzen Satz steckt. Vielleicht sollte ich glücklich darüber sein, dass sie wenigstens versucht hat interessiert zu wirken, aber es trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Lächelnd versuche ich den tiefsitzenden Schmerz zu ignorieren und presse meine Lippen für einen kurzen Moment zusammen. Sie reißt den Blick wieder von dem Buch los und schaut mich an. Ich weiß, dass sie meinen Anblick nur noch schwer erträgt, seit meine Schwester nicht mehr da ist. Aber was soll ich denn machen? Ich kann ja nicht einfach verschwinden. Ich weiß auch, dass sie sich Mühe gibt, das zu verbergen, was ihr im Gesicht geschrieben steht und in vielen Fällen schafft sie es auch.
„Ich wollte dir noch etwas erzählen", eröffnet sie mir.
Mit meinen Fingerspitzen fahre ich die Maserung des Holztisches nach und nicke stumm, um zu verstehen zu geben, dass ich ihr zuhöre.
„Ich werde ab nächster Woche nicht mehr nur auf einer halben Stelle arbeiten. Ich habe mich entschlossen Vollzeit zu Arbeiten."
Sofort schaue ich auf und suche in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, dass sie nicht ernst meint, was sie gerade gesagt hat. Meine Mutter. Ana van Elburg möchte ab jetzt so viel Zeit, wie möglich im Krankenhaus verbringen.
„Julie, du bist jetzt in der elften Klasse und brauchst mich nicht mehr", antwortet sie auf meinen geschockten Gesichtsausdruck. „Wir hätten mehr Geld und ich hätte die Chance Oberärztin zu werden."
Es geht ihr nicht um das Geld. Es geht ihr auch nicht, um die bescheuerte Chance Oberärztin zu werden. Es geht ihr darum nicht mehr zu Hause zu sein, zu verdrängen, dass nur noch eine Tochter bei ihr in der Wohnung sitzt.
„Du willst mich im Stich lassen? Oder geht es hier um Ellie?", frage ich scharf und verschränke meine Arme vor der Brust.
„Nein! Es dreht sich nicht immer alles um Ellie."
Ellie, meine große Schwester. Ellie, die hier nicht mehr wohnt. Ellie, die immer perfekt war und daran zerbrochen ist. Ellie, die jetzt in der Psychiatrie wohnt.
„Natürlich geht es um sie! Wäre sie noch hier, würdest du nicht im Traum auf die Idee kommen mehr zu arbeiten."
Meine Stimme wird lauter. Ellie ist ein sensibles Thema. Für uns beide.
„Genau in dem Moment in dem meine große Schwester nicht mehr erreichbar für mich ist. Genau in dem Moment musst du mich auch noch verlassen. Das ist nicht fair."
Meine Stimme beginnt zu zittern, ich spüre einen Kloß in meinem Hals und in meinen Augen sammeln sich die ersten Tränen. Ich fühle mich alleingelassen auf dieser Welt. Der einzige Ort, an dem ich mich wohlgefühlt habe, fällt vor meinen Augen in sich zusammen.
„Julie", sagt meine Mutter sanft. „Ich bin doch immer noch da."
Sie legt ihre Hand auf meine. Um mich zu beruhigen, um mir zu zeigen, dass sie auch meint, was sie sagt. Das ist mir egal. Ich ziehe meine Hand weg und schau sie aus glasigen Augen an. Ich möchte den Kloß in meinem Hals herunterschlucken, doch er bleibt, wo er ist.
„Du kannst mich doch nicht mal mehr ansehen. Wie willst du da für mich da sein? Ich sehe den Schmerz in deinen Augen, wenn du an ihrem Zimmer vorbeigehst, wenn du mich ansiehst."
Jetzt fließen mir die Tränen über die Wangen und ich atme zitternd ein, als ich mich von meinem Stuhl erhebe. Meiner Mutter reißt der Geduldsfaden und sie funkelt mich kalt an.
„Julie. Hör auf die Drama-Queen zu spielen. Hör auf dich so in die Sache hineinzusteigern."
Sie spricht die Worte ruhig aus, aber sie könnten nicht mehr wehtun.
„Mich aufhören in die Sache so hineinzusteigern?"
Meine Stimme bricht weg und ich schnappe nach Luft.
„Wie realitätsfremd bist du eigentlich? Hast du eigentlich gemerkt, was hier abgeht? Deine eine Tochter sitzt in der Klapse und dir fällt nichts Besseres ein, als dich in deine Arbeit zu stürzen und deine andere Tochter auch im Stich zu lassen?"
Das mit der Klapse tut mir leid, aber alles andere meine ich genau so, wie ich es gesagt habe. Wieder verändert sich etwas in dem Blick meiner Mutter. Für einen kurzen Moment weicht die Kälte der Traurigkeit.
„Wie kannst du es wagen so etwas zu sagen?"
Ich weiß, dass ich sie verletzt habe, aber das ist mir in diesem Moment so egal.
„Verschwinde sofort. Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen."
Zornig drehe ich mich um und verschwinde in mein Zimmer. Es ist ja nichts Neues, dass sie meinen Anblick nicht ertragen kann.
Aus dem Spiegel in meinem Zimmer blicken mir zwei blaue Augen entgegen. Schwarze Schlieren ziehen sich über meine Wangen und meine geröteten Augen bilden einen interessanten Kontrast zu meiner blauen Iris. Worüber mache ich mir eigentlich gerade Gedanken? Halb aus Wut, halb aus Kummer raufe ich mir die Haare. Der Schmerz der tief aus meinem Inneren zu kommen scheint, raubt mir den Atem und ich ringe nach Luft. Wieso muss ausgerechnet mir all das passieren? Wieso? Ich lege mich auf mein Bett und rolle mich zusammen. Die Tränen sickern in das Bettlaken.
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may i love him
Teen FictionIn Julies Augen sind alle Jungs gleich, und zwar gleich schrecklich. Doch als sie die Schule wechselt und am ersten Schultag dem norwegischen Austauschschüler Finley über den Weg läuft, ändert sich einiges. Sie beginnt ihre Abneigung gegenüber Jungs...