Die Lange Nacht Teil 6

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Acht Jahre zuvor, 12. Juli, 965 NEE, Canis Minor

»Nicht jetzt ...«, seufzte die Stimme. »Wir haben eine Chance, das zu überleben. Aber sie schwindet mit jeder Minute, die du zögerst ...«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern und starrte unschlüssig durch die schmale Öffnung meines Verstecks.

»Ich kann da nicht raus ...«, flüsterte ich heiser mehr zu mir selbst als zu der seltsamen Stimme, die durch meine Gedanken waberte.

Nicht, nachdem ich ...

Ich schüttelte den Kopf, während sich mein Verstand um die Vorstellung meines zerfetzten leblosen Körpers herumdrückte wie meine Schwester Samantha um ein Paar neuer Schuhe, die sie sich nicht leisten konnte.

»... beinahe gestorben bist?«, vervollständigte die hallende Stimme den Satz ungefragt für mich, wobei unter den tonlosen Worten schreckliche Schmerzen zu schwimmen schienen. Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und nickte stumm. Ein eiskalter Kloß in meinem Hals schnürte mir den Atem ab und lähmte meine Glieder.

»Leben oder sterben. Es ist deine Entscheidung, Alex.«

Ich nickte erneut. Die Stimme hatte recht, das wusste ich. Es wurde rasch kälter. In den letzten Minuten war die Temperatur mindestens um zehn Grade gefallen und tastete mit eisigen Fingern nach der Wärme meines Körpers.

Ich rieb die klammen Hände aneinander. Das bedeutete, dass entweder der Akku meines Thermoanzugs nach dem Trommelfeuer hölzerner Schrapnellgeschosse erschöpft war und das Life Guard System die Heizelemente herunterfuhr oder die Eisstürme standen unmittelbar bevor.

»Was eigentlich ...«

Weiter kam die Stimme nicht, bevor sie vom Feuersturm meiner hilflosen Wut fortgerissen wurde.

»Fick dich!«, brüllte ich dem violetten Pulsieren des fremdartigen Waldes entgegen, das durch den schmalen Spalt ins Innere des verrottenden Baumes sickerte. »Fickt euch doch alle! Fick den scheiß Planeten, die Dinos ...und vor allem ... dich ...«

Ich brach schluchzend ab. Die Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war, aber sie half mir die Schockstarre zu überwinden. Ich kroch auf allen vieren ins Freie, wo mich das auf- und abschwellende Glühen der Bäume wie das Schlagen eines sterbenden Herzens empfing. Ich rappelte mich auf. Meine Knie zitterten und der Boden bockte, als würde ich auf dem Deck eines Schiffes in schwerer See stehen. Es schneite. Mein Herz schien für einen einzigen, zur Ewigkeit gerinnenden Augenblick, innezuhalten. Direkt vor meinem Gesicht tanzten dicke weiße Flocken ein verspieltes Ballett und wirkten dabei so harmlos, als würde ich eine altmodische Schneekugel schütteln. Meine Mutter liebte die Dinger. Sie besaß ein ganzes Regal voller Schneekugeln. Am besten mit Motiven und Orten, die es schon lange nicht mehr gab. Der Eiffelturm oder Big Ben. Hollywood war auch sehr beliebt, davon hatte sie drei. Überhaupt sah der Schnee genauso aus wie zu Hause. Zum ersten Mal seit ich auf Canis Minor angekommen war, fühlte sich etwas nicht fremdartig oder exotisch, sondern vollkommen normal an. Zumindest wenn man von den seltsamen gefiederten Samen absah, die zwischen den Schneeflocken schwebten und mich spontan an die Schirmflieger eines Löwenzahns erinnerten. Ich streckte ehrfürchtig die Hand aus und berührte eines der fingernagelgroßen Gebilde, das daraufhin erzitterte, seine Flugrichtung änderte und flugs von mir weg driftete.

»Nach rechts. Du musst dich rechts halten, Alex«, ermahnte mich die körperlose Stimme.

Ich bewegte mich nicht.

»Nach rechts, Alex! Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, dröhnte die Stimme durch meinen Verstand und riss mich aus der verzückten Betrachtung der schwerelos vor mir tanzenden Samen.

Ich öffnete protestierend den Mund ...

... und stolperte vorwärts.

»Gut ...«, die Stimme klang erleichtert.

Einige Augenblicke später hatte ich das Ende des Baumriesen erreicht.

»Ein wenig links jetzt.«

»... und das weißt du woher?«, fragte ich lauter, als ich wollte, aber die Dunkelheit und mein seltsamer imaginärer Begleiter blieben mir eine Antwort eine Antwort schuldig.

»Ach fick dich doch endgültig!«, fluchte ich wieder, stieß mich von dem Baumstamm ab und schlug die angegebene Richtung ein.

Der Schneefall wurde rasch dichter und zwang die filigranen Samenflieger mit seinen dicken Flocken zu Boden.

Die Stimme seufzte. »Deshalb explodieren die Bäume. Während des Tages bilden sie Samen aus, die sie mit dicken hölzernen Kapseln vor den Pflanzenfressern schützen. Bei Anbruch der Nacht gefriert der Pflanzensaft in den Wänden der Samenkapseln, dehnt sich aus und sprengt die Kapseln ... Den Rest hast du selbst erlebt.«

»Aha ...«, machte ich wenig intelligent und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Meinem Lieblingsantipädagogen Mr. Nibley wäre vermutlich irgendein schlauer Kommentar dazu eingefallen, wenn er sich mal dazu herablassen würde in seinem Biologieunterricht etwas anderes zu behandeln als Lebensformen der Erde. Aber das war wohl nur ein weiterer Beweis seiner Engstirnigkeit, die ihn tatsächlich glauben ließ, dass Samantha meine Formel selbst entdeckt haben könnte.

Samantha!

»Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit, Alex!«

Ich nickte widerstrebend und wusste, dass die Stimme recht hatte. Die Kälte fraß sich mit jeder Sekunde tiefer in meine Glieder und zerrte wie Bleigewichte an meinen Beinen. Das Life Guard System arbeitete am Anschlag. Jeder Atemzug war so eisig, dass er sich anfühlte, als würde ich mit Glassplittern versetzten Sand in meine Lungen spülen.

»Wie weit noch?«, hustete ich.

»Du hast es bald geschafft, Alex.«

Ich verzog die erstarrten Gesichtszüge zur schmerzenden Karikatur eines freudlosen Lächelns.

»Ein bisschen genauer ... geht es nicht ... oder?«

»Alex ...«

»Fick dich!«, brüllte ich der violett pulsierenden Finsternis entgegen und lehnte mich an einen Baum.

Die Pause tat gut. Meine Muskeln brannten wie Feuer und in meiner Hüfte tobte ein Seitenstechen, als würde ich für einen zwanzig Meilen Marathon trainieren. Lange durfte ich mir diesen bescheidenen Luxus allerdings nicht gönnen, das war mir klar. Deshalb stieß ich mich nach einigen schweren Atemzügen wieder von dem kalten Holz ab, bevor mich die Stimme daran erinnern konnte. Der Wald um mich herum, zerrann zum surrealen Bild eines wahnsinnigen Künstlers im Drogenrausch, der die sternendurchflutete Finsternis einer fernen Welt kühn mit schwarzen und violetten Pinselstrichen durchbrochen hatte. Alles um mich herum drehte sich, bis ich irgendwann jedes Zeitgefühl verlor und der Stimme in meinem Kopf hinterher taumelte, als wäre es das verführerische Flötenspiel eines exotischen Rattenfängers.

»Stop!« Das Wort explodierte mit der grellen Wucht einer Explosion in meinem Schädel.

Ich schrie erschreckt auf.

»Stop, habe ich gesagt. Keinen Schritt weiter!«

Ich blieb wie versteinert stehen und starrte auf den sechsbeinigen Kadaver eines Renners zu meinen Füßen.

»Du hast mich gefunden.«

Ich öffnete verständnislos den Mund.

Das Tier war von Dutzenden Holzsplittern durchbohrt und offensichtlich bereits vor Stunden verendet. In seinem Todeskampf hatte es um eine schwach leuchtende Pfütze zusammengerollt, als würde es ein Junges vor dem nahenden Inferno der Langen Nacht schützen wollen.

»Nicht der Renner, Alex. Ich bin nicht der Renner ...«

Ich schluckte, während meine Gedanken wie in Zeitlupe durch meinen Verstand krochen und sich der unausweichlichen und offensichtlichen Wahrheit nährten.

»Du bist eine ...« Ich brach ab.

»Alge«, sagte die Stimme in meinem Kopf. »Das Wort, das du suchst, ist Alge. Wasserpflanze geht aber auch.«


Fortsetzung folgt am 19.06.2021

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