Die Lange Nacht Teil 8

222 8 16
                                    


12. Juli, 965 NEE, Canis Minor

Damit hatte das Universum den endgültigen Beweis angetreten, dass es mich verarschen wollte. Mein Kinn baumelte etwa in der Höhe meiner Knie, während sich mein Verstand überschlug, als wäre es ein Hundewelpe, der seinem eigenen Schwanz nachjagte.

Und nein ...

... Alge war nicht unbedingt der Begriff, den ich wählen würde. Eher Pfütze. Aber das sagte ich nicht laut, sondern starrte wie gebannt auf den von unzähligen Holzsplittern zerfetzten Kadaver des gazellengroßen Renners.

»Und jetzt?«, fragte ich schließlich widerstrebend, während mein Blick an den Beinen entlang zu der leuchtenden Flüssigkeit wanderte.

Die Pfütze war nicht viel größer als ein Suppenteller und schillerte in einem sanften beruhigenden Licht, das meinen Verstand einlullte wie das billige synthetische Bier auf einer Spring Break Party. Die Wut auf Samantha, meine Eltern, Mr. Nibley, die Einsamkeit im Little Big Bear Camp und der wahnwitzige Adrenalinrausch endlich wieder Abigails Stimme zu hören, wenn ich es nur zurück in die Zivilisation schaffte ...

... all das verblasste. Schrumpfte zusammen auf die Größe einer unbedeutenden Nichtigkeit, wie ein Luftballon, dem man die Luft abließ. Ein surreales Gefühl allumfassenden Friedens breitete sich in meinem Inneren aus. 

»Und jetzt? Was soll ich machen?«, murmelte ich und klang dabei in etwa so zurechnungsfähig wie damals, als ich Samanthas Haschcookies für die Veteranenaktion der Pfadfinder probiert hatte.

»Die zwei Splitter«, flüsterte die körperlose Stimme in meinem Verstand. »Da stecken zwei Splitter in mir. Du ... musst sie rausziehen.«

Ich blinzelte und war von einer Sekunde auf die nächste wieder nüchtern.

»Wie schon gesagt ... Ich hatte nicht so viel Glück mit meinem Versteck wie du.«

Ich leckte mir über die aufgesprungenen Lippen und bereute es sofort. »Ich soll ...«

»Ja ...« Die Stimme klang verzweifelt drängend. »Ich ... ich sterbe. Lange halte ich das nicht mehr aus ...«

Unter den Worten des seltsamen Wesens schwang dieselbe Verzweiflung, die mich folterte, seit ich begriffen hatte, dass ich mich in der Wildnis der Langen Nacht verirrt hatte. Die Alge, Wasserpflanze oder was auch immer konnte kaum weiter von dem entfernt sein, was ich als intelligentes Leben bezeichnen würde, aber seine Angst machte ihn beklemmend menschlich. Ich nagte auf meiner Unterlippe und kniff schließlich die Augen zusammen, bis ich schemenhafte Strukturen in der wogenden Helligkeit erkannte, die mich tatsächlich an die breiten schwimmenden Blätter von Seetang erinnerten.

»Bist du sicher, dass das eine gute ...?«

Ich wusste nicht viel über Wasserpflanzen, aber auch ohne das GalNet oder den gigantischen Wissensschatz der Encyclopædia Galactica zu durchforsten, war mir klar, dass die Blätter einer Alge nicht besonders widerstandsfähig waren. Ich würde den Schaden der Splitter nur vergrößern, indem ich sie herauszog.

»Ich ... ich gehe eben zurück ... und ... Zum Camp meine ich ... und hole jemand. Da kann dir bestimmt jemand helfen ...«

»Alex ...«, flüsterte die Stimme und klang beinahe so leise wie ein verhallender Windhauch. »Das überleben wir nicht. Du nicht ... und ich auch nicht. Keiner von uns beiden.«

Ich wusste, dass das Wesen recht hatte, und sank vor der Pfütze auf die Knie. »Und dann? Ich meine, wenn ich es getan habe?«

»Dann muss ich in dich eindringen.«

Ich riss die Augen auf.

Das klingt auf jede nur erdenkliche Art so was von falsch.

Ich öffnete den Mund ...

... während die Bilder, die plötzlich durch meinen Verstand rotierten, selbst den perversesten Pornoproduzenten vor Neid erblassen lassen würden. Bilder, in denen es um Außerirdische, jede Menge Tentakel und eine schreiende Alexandra Wilson ging.

Das will ich nicht.

Nichts davon. Nicht einmal ansatzweise.

»Nein! Aber so was von nein! Das ... das ... Nein!« Ich versuchte, auf die Beine zu kommen, stolperte rückwärts und landete mit dem Hintern in einer Schneewehe.

»Keine Sorge.« Die Stimme klang beinahe belustigt. »Doch nicht so. Du legst nur deine Hand in das Wasser und ich diffundiere durch die Haut.«

»Durch die Haut?« Ich schluckte und war mir nicht sicher, ob das wirklich besser war.

»Ich will mich mit deinen Muskeln und deinen Nerven verbinden Alex. Und nicht mit deiner Gebärmutter.«

Ich starrte die leuchtende Pfütze mit großen Augen an, aber es war offensichtlich, dass meine Zeit ablief. Aus den dicken Flocken war mittlerweile ein dichtes Schneetreiben geworden, das den Wald unter einer weißen Decke begrub.

»Und dann?«, fragte ich viel lauter und schriller, als ich wollte.

»Siehst du die Pfütze?«

»Natürlich. Ich bin ja nicht blind.«

»Das Wasser ist trotz der eisigen Temperaturen nicht gefroren. Dasselbe kann ich für deinen Körper tun.«

»Und ... und warum ... brauchst du mich dann?«

Das Wesen seufzte. »Menschen sind wirklich nicht besonders intelligent, oder? Abgesehen von den Splittern, die mich umbringen, sind natürlich auch meinen Fähigkeiten Grenzen gesetzt. Wenn die Eisstürme einsetzen kann hier draußen nichts mehr überleben. Auch ich nicht ...«

Ich nickte mechanisch.

»Alex, ich kann mich eine Zeitlang in dieser Pfütze halten oder dich gegen die Kälte schützen ...«

»... aber am Ende wird die Lange Nacht gewinnen«, flüsterte ich, griff mit beiden Händen nach den Holzsplittern und zog sie mit einem Ruck heraus.

Der gequälte Aufschrei, der durch meinen Verstand tobte, raubte mir beinahe das Bewusstsein und das Leuchten erlosch.

»Bist du noch da?« Ich starrte auf die schlammbraune Pfütze, deren Wellen im Lichtkegel meiner Schulterlampe erstarrten.

»Lebst du noch?«, wiederholte ich lauter und Panik mischte sich in meine Stimme.

Keine Reaktion.

Der Frost fraß sich von den Ufern der winzigen Wasserfläche in Sekundenschnelle bis zur Mitte und begrub meine einzige Hoffnung auf Rettung unter einem eisigen Panzer. Ich fluchte, riss mir die Handschuhe von den Fingern und rammte beide Hände durch die Eisschicht ins Wasser.

»Komm schon, Kumpel!«, rief ich. »Komm schon. Du schaffst das ...«

Fortsetzung folgt am 03.07.2021

2021

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
Ratpack 7Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt