Valkyrie Teil 7

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Acht Jahre zuvor, 12. Juli, 965 NEE, Canis Minor

»Ein besserer Weg ist dir nicht eingefallen?«, keuchte ich und quetschte mich an einem Eiszapfen vorbei, der mindestens die Hälfte des Überhangs blockierte, unter dem ich gerade hindurchkroch.

»Du bist eben etwas größer als ein Renner ...«, antwortete das seltsame Pflanzenwesen, das irgendwo in mir drinsteckte.

Einfach nicht drüber nachdenken und weiterkriechen ...

... leider war das deutlich einfacher gesagt als getan.

Ich löste eine Falte meines Thermoanzugs von einer Zacke, die ihn zu zerreißen drohte, rollte mich auf den Rücken und zog mich ein Stück weiter nach vorn.

»Echt? Etwas größer als ein Renner?«, echote ich. »Und das fällt dir jetzt erst auf?«

»Meine Erfahrungen mit Menschen sind nun mal leider begrenzt«, entgegnete das Wesen lapidar. »Was passiert eigentlich, wenn ich das tun?«

»Nicht ...«, rief ich lauter, als ich wollte, aber weiter kam ich eh nicht mehr, bevor ein wohliger Schauer durch mein Becken rieselte und sich Muskeln genau dort zusammenzogen, wo ich es im Moment absolut überhaupt nicht brauchen konnte.

»Oh, das ist ja hoch interessant!«

Ich biss mir auf die Unterlippe, um bei dem unerwünschten und völlig unpassenden Orgasmus nicht laut aufzustöhnen. Noch dazu einer der Besten, den ich je erlebt hatte ...

... nicht das ich da schon so viel Erfahrung hätte, aber trotzdem. Da muss ich für galaktischen Sex mit einer Kelpalge ans andere Ende des Universums düsen. Wenn ich nicht kurz vor dem Erfrieren stehen würde, wär's vielleicht sogar lustig.

Ein weiterer Schauer rieselte mein Rückgrat hinunter und breitete sich als prickelnde Wärme zwischen meinen Schenkeln aus.

»Lass das!«, knurrte ich.

»Deine Körperfunktionen reagieren positiv darauf. Ich habe nicht den Eindruck, dass es dir unangenehm ist. Wofür brauchen Menschen so was? Es sieht aus als könntet ihr das bewusst auslösen ...«, erklang die Stimme in meinem Kopf.

Ich befreite mich endgültig aus der quälenden Enge des Felsüberhangs und rappelte mich auf. »Wenn du brav bist, erklär ich es dir vielleicht mal ...«

»Oh ...«

»Wie geht es jetzt weiter?« Ich ließ den Scheinwerferkegel meiner verbliebenen Schulterlampe über die Eismassen des gefrorenen Wasserfalls tanzen. Der beschwerliche Trampelpfad war tatsächlich eine erhebliche Abkürzung. Man konnte die weiße Gischt der in die Tiefe stürzenden Fluten von der Mensaterrasse des Little Big Bear Camps sehen. Der Wasserfall war zwar Lichtjahre von den kolossalen Ausmaßen der Niagarafälle entfernt, die ich vor Jahren mit meinen Eltern und Sam besucht hatte, lieferte aber dennoch den spektakulären Hintergrund für die Erinnerungsholos der Campteenager, in denen es immer entweder um die erste große Liebe oder Hexapodensaurier ging. Oder beides. Zumindest während des langen Tages. Während der wochenlangen Nacht erstarrten die Wassermassen zum apokalyptischen Kunstwerk eines wahnsinnigen Bildhauers, der brodelnd gefrorenen Schaum mit Heerscharen von Eiszapfen und undurchdringlicher Finsternis verwob.

»Da drüben rechts. Da geht der Pfad weiter ...«, sagte das Pflanzenwesen nur für mich hörbar.

Ich drehte mich um und der Scheinwerferstrahl wanderte vom Wasserfall zum glitzernden Grau einer Felswand.

»Das ist doch ein Witz ...«, murmelte ich.

»Es ist eine Abkürzung.«

»Ja ... eine Abkürzung in den Tod«, maulte ich.

Aber ich wusste, dass der exotische Symbiont recht hatte. Die Zeit lief uns davon. Das Thermometer meines Anzugs zeigte - 62 °C an. Irgendwo um - 70 °C herum brach endgültig die Hölle los, weil sich die oberen Schichten der Atmosphäre deutlich schneller abkühlten als die Unteren, die von der gespeicherten Wärme des Langen Tages zehrten. Und gegen die Eisstürme von Canis Minor gingen die guten alten irdischen Tornados als laues Frühlingswetter durch. Danach wurde es dann richtig ungemütlich. Die Temperaturen sanken auf - 180 °C ab. Die Atmosphäre des Planeten kondensierte zuerst zu einem zähen Ozean und erstarrte später zu einer massiven Eiskruste ...

... bis Canis Minor wieder aus dem Schatten seines Mutterplaneten hervortrat und die ferne Sonne die Welt zu neuem Leben erweckte. Wie die Tier- und Pflanzenwelt die Tortur der Langen Nacht überlebte, war auch Jahrhunderte nach der Entdeckung des Planeten noch immer Gegenstand zahlloser Forschungsprojekte.

Aber ja ...

... dicht über der gefrorenen Gischt konnte ich tatsächlich eine dunkle Spur erkennen, die sich verräterisch glitzernd in die Tiefe wand.

Ich fluchte leise.

»Auf allen vieren geht es besser«, schlug das Pflanzenwesen vor.

»Weil ich dann mehr wie ein Renner bin?«, ätzte ich.

»Nein. Weil du dann weniger schnell ausrutschen wirst. Dein Schwerpunkt liegt tiefer und du verlierst nicht so schnell das Gleichgewicht, wenn du ausrutschst

»Das ist doch jetzt echt ...«, protestierte ich, ging aber widerstrebend in die Knie und kroch langsam den Pfad hinunter, der an manchen Stellen kaum breiter als mein Oberschenkel war.

»Es wird knapp werden«, sagte das Wesen nach einer viel zu langen Ewigkeit, in der ich mich fühlte, als würde ich nicht von der Stelle kommen.

»Ich weiß ...«, knurrte ich missmutig. »Wie heißt du überhaupt?«

»Weshalb interessierst du dich ausgerechnet jetzt dafür?«

»Vielleicht will ich einfach wissen, mit wem ich sterbe ...«, murmelte ich.

Das Wesen gab ein undefinierbares Geräusch von sich, das in meinem Bewusstsein widerhallte, wie das ferne Röhren eines startenden Raumschiffs. Dann traf mich eine Flut aus Bildern und Emotionen mit der Wucht eines Orkans. Ich schrie erschreckt auf und verlor beinahe den Halt auf dem trügerisch glatten Untergrund.

»Was ...«, keuchte ich entsetzt.

»Das ist mein Name«, sagte das Wesen lakonisch.

»Das ist ein Chaos aus ...«, ich brach ab und drückte mich an einem vereisten Stalagmiten vorbei.

»Ja genau ...« Ich glaubte, so etwas wie ein Nicken in meinem Nacken zu spüren. »Das bin ich. Die Summe all dessen, was ich erlebt habe.«

»Heilige Scheiße ...«, murmelte ich. »Weißt du, was? Ich nenn dich einfach ... Charles. Das passt.«

»Wie soll das passen?« Ich spürte die Verwirrung des seltsamen Wesens. »Das ist nur ... ein einziger Begriff ... Wie soll er all das repräsentieren, was ich bin?«

Ich seufzte und begann ihm zu erzählen, wer Charles Darwin war, während ich mich die schroffe Felswand weiter hinab arbeitete.


Fortsetzung folgt am 21.08.2021


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