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Marinette landete auf der Dachterrasse und blickte hinüber zu dem Dachfenster, das in den Boden eingelassen war.
Der dicht bewölkte Nachthimmel über ihr dämpfte die Lichter der Stadt und die Dunkelheit umgab sie wie ein willkommener Tarnumhang.
Sie fürchtete sich nicht davor, gesehen zu werden.
Sie fürchtete sich viel mehr davor, überhaupt hier zu sein.
Als Ladybug.
Mitten in der Nacht.
Gerade einmal drei Tage nach Silvester.
Die Dunkelheit gaukelte ihr Geheimhaltung vor. Als könnte sie ihrem eigenen Bewusstsein einen Streich spielen und sich einreden, überhaupt nicht hier zu sein.
Doch sie war hier.
Und das war kein gutes Zeichen.

Zögerlich machte Marinette zwei Schritte auf das Dachfenster zu.
Ihre Vernunft riet ihr laut und deutlich, umzudrehen und wieder nach Hause zu gehen.
Noch war es nicht zu spät.
Noch hatte sie nichts Verwerfliches getan.
Aber wenn sie tatsächlich weiter auf das Fenster zuging und auch noch den Zahlencode eingab ...

Schon jetzt konnte sie beinahe Tikkis Stimme in ihrem Kopf hören, die sie für diesen nächtlichen Ausflug unsanft zurechtwies – mit diesem vorwurfsvollen Ton, den sie so meisterlich beherrschte.
Marinette war alles andere als scharf auf eine Standpauke ihres Kwamis.
Aber im Moment steckte Tikki in ihren Ohrringen.
Und das bedeutete, dass sie sie nicht aufhalten konnte.

Marinette machte zwei weitere Schritte und kniete sich vor das Dachfenster.
Ihre Hand schwebte über dem Nummernfeld.
Sie zögerte.
Cat Noir könnte die Kombination geändert haben. Oder er war die Wohnung bereits losgeworden und sie war kurz davor, bei jemand völlig fremden einzubrechen.
Ihr Finger gab die Zahlen 9 - 7 - 3 – 1 – 5 ein und ein kleines grünes Lämpchen verriet ihr, dass das Schloss nun geöffnet war.
Bevor sie das Fenster öffnete, lächelte Marinette noch einen Moment in sich hinein.
Der Zahlencode.
Die Reihenfolge, in der die Punkte auf ihren Ohrringen verschwanden.
Cat Noir konnte richtig süß sein.
Welche romantischen Gesten er wohl geplant hatte, als sie noch ein Paar gewesen waren?

Ohne diese Entscheidung ein weiteres Mal zu überdenken, ließ Marinette sich nach unten in die Wohnung fallen und schloss mit ihrem Jo-Jo das Fenster hinter sich.
Die Wohnung war so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte.
Sie tastete sich bis zum Lichtschalter vor.

Das Wohnzimmer sah noch genauso aus, wie bei ihrem letzten Besuch.
Das rote Sofa. Das Klavier. Sogar das gerahmte Bild stand noch darauf.
Das Foto von ihr und Cat Noir.
Zum ersten Mal ging Marinette näher ran und nahm es in die Hand, um es zu betrachten.
Sie konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, bei welchem ihrem Superheldeneinsätze es aufgenommen worden war.
Aber es war auf jeden Fall keines der Fotos für die Presse, bei dem sie sich nebeneinanderstellten und auf Kommando in die Kamera lächelten.
Dieses Foto war aufgenommen worden, als sie selbst es wohl gar nicht mitbekommen hatten.
Sie standen auf einer Brücke über der Seine und Cat Noir hatte den Arm um ihre Schulter gelegt.
Er sah sie lächelnd von der Seite an, während sie den Kopf leicht gesenkt hielt und einen beinahe schüchtern wirkenden Ausdruck auf dem Gesicht hatte.
Vielleicht hatte Cat Noir ihr gerade wieder einen seiner schmeichelnden Kommentare zugeraunt.
Bei denen hatte sie sich früher oftmals nicht entscheiden können zwischen Verlegenheit, leichter Verärgerung und Vergnügen.
Sie hatte es ihm nie übel genommen, dass er in sie verliebt gewesen war. Aber sie konnte nicht genau sagen, wie ihr Verhältnis längerfristig weiter verlaufen wäre, wenn sich durch ihren Liebeskummer über Adrien nicht alles verändert hätte.
Wäre es einfach immer so weiter gegangen?
Oder wäre sie irgendwann ernsthaft genervt gewesen von seinen halb ernsten Annäherungen?
Oder hätte Cat Noir irgendwann eingesehen, dass er es nicht weiter versuchen sollte?
Er war nie aufdringlich gewesen und er hatte bereits vor langer Zeit eingesehen, dass er sie nicht zwingen konnte, ihn ebenfalls zu lieben.
Trotzdem war es eine Sache gewesen, auf die sie in ihrer Partnerschaft gern verzichtet hätte.
Wie sich die Dinge doch ändern konnten ...
In Zukunft würde sie seine Blicke und Bemerkungen richtig vermissen.
Nach ihrer Beziehung und Trennung würde er so etwas nicht mehr wagen. Und vermutlich war das auch gut so.

Miraculous - Unendlich (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt