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Marinette hatte sich unzählige Male vorgestellt, wie es sein würde, Adrien ihre Liebe zu gestehen.
In all den Jahren – von dem Tag, an dem sie sich Herz über Kopf in ihn verliebt hatte, bis zu dem Tag, als ihr Herz von seinen Worten gebrochen worden war – hatte es kaum eine Woche gegeben, in der sie nicht darüber nachgedacht hatte.

Meistens waren es ernsthafte Überlegungen gewesen, mit denen sie sich auf die tatsächliche Situation hatte vorbereiten wollen.
Sie hatten verschiedenste Szenarien entworfen und diese bis ins Detail durchdacht - vom passenden Ort und Zeitpunkt, über die Worte, die sie sagen wollte, bis hin zu Adriens potenzieller Antwort und ihrer eigenen Reaktion darauf.
Mal hatte sie ihm ihre Gefühle in der Schule gestehen wollen, mal bei einem gemeinsamen Spaziergang an der Seine.
Mal war es ihr Plan gewesen, ganz direkt und geradeheraus zu sein, mal hatte sie ihn zunächst fragen wollen, wie er über sie dachte, um im Notfall noch einen Ausweg aus der Situation zu haben.
Wieder und wieder hatte sie dieses Gespräch in ihrem Kopf durchgespielt.
Aber noch mehr als das.
Auch zum Tagträumen hatte sie sich immer wieder hinreißen lassen.
Inspiriert von Büchern, Liebesfilmen und Serien waren dabei vollkommen unrealistische Situationen entstanden, ungeheuer kitschig und dramatisch und manchmal sogar tragisch.

In all der Zeit hatte es von diesem Ereignis so viele unterschiedliche Varianten in Marinettes Kopf gegeben, dass es schon beinahe verwunderlich war, dass keine davon auch nur ansatzweise an die Realität herankam.

Der Ort, ein kalter, unansehnlicher Behandlungsraum in einem Krankenhaus, ging zumindest grob in die Richtung einiger ihrer Serien-inspirierten Tagträume.
Doch schon beim Zeitpunkt wurde es ungewöhnlich: Nachdem sie einander gesagt hatten, dass sie jemand anderen liebten, und nachdem sie sogar offiziell ihre Freundschaft beendet hatten, um endgültig miteinander abzuschließen.
Auch das Liebesgeständnis an sich war meilenweit von Marinettes früheren Vorstellungen entfernt.
Niemals hätte sie damit gerechnet, dass Ladybug, ihre geheime Superheldenidentität, dabei zum Thema werden würde.
Und obwohl Adriens Reaktion – die weit aufgerissenen Augen – der einzige Part war, bei dem sie mit ihren früheren Erwartungen annähernd richtig gelegen hatte, machte er ihr am meisten zu schaffen.

Der Ausdruck auf Adriens Gesicht ähnelte dem, als er im »Cubic Picture« von dem Ultraschallbild zu ihr aufgesehen hatte.
Doch statt in eine Starre zu verfallen, machte er diesmal zwei wankende Schritte auf sie zu und ließ sich auf den Stuhl neben ihrer Liege plumpsen.
Marinette verspürte den Wunsch, die Hand auszustrecken und ihm über die Wange zu streichen, aber etwas hielt sie zurück.
Sie war zu gefesselt von Adriens Blick.

In seinen großen, grünen Augen konnte sie ungewöhnlich deutlich seine Gedanken erkennen.
Sie konnte erkennen, wie sich die einzelnen Puzzleteile in seinem Kopf langsam zu einem Gesamtbild zusammenfügten.

Ladybug, die ihn, Cat Noir, wegen ihrer Gefühle für einen anderen immer wieder zurückgewiesen hatte.
Ladybug, der von diesem Jungen das Herz gebrochen worden war.
Ladybug, die eine Beziehung mit ihm einging und ihre alte Liebe hinter sich ließ.

Und dann Marinette.
Marinette, die jahrelang eine enge Freundin gewesen war, aber nie mehr als das.
Marinette, die während ihres Dates den Kuss abbrach, weil sie einen anderen liebte.
Marinette, die beim Beenden ihrer Freundschaft aussprach, dass sie in all den Jahren ihrer Freundschaft in ihn, Adrien, verliebt gewesen war.

Marinette keuchte leise auf und ihr Blick rutschte von Adriens Augen ins Leere.
Erst jetzt, beim Mitverfolgen der Gedanken in seinem Kopf, wurde ihr die ganze Tragweite der Sache bewusst.
Bisher hatte sie bei all dem nur an den zurückgewiesenen Cat Noir und den heimlich angehimmelten Adrien gedacht.
Aber hinter diesem Durcheinander von Gefühlen und Geheimnissen steckte noch mehr.
Die andere Seite.
Ihre Seite.

Miraculous - Unendlich (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt