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Auf dem Nachhauseweg von Alya hielt Marinette sich noch zurück.
Doch sobald sie in ihrem Zimmer angekommen war, stürzte sie sich auf ihren Computer und meldete sich mit zittrigen Fingern bei ihrer neuen E-Mail-Adresse an.
Den gesamten Abend über hatte sie es hinbekommen, die Gedanken an Cat Noir zu verdrängen. Sie hatte sich regelrecht verboten über seine Reaktion auf den Brief nachzudenken; ihr Kopf hätte nur zu leicht ein düsteres, mit jeder Menge Details ausgeschmücktes Horrorszenario entwerfen und sie damit in eine tiefe Verzweiflung stürzen können.
Sowohl beim Schreiben am Morgen, als auch den gesamten Tag über hatte sie versucht, zu verdrängen, wie viel von dem Brief abhing.

Jetzt, in den viel zu langen Sekunden, in denen sich die Internetseite vor ihr aufbaute, konnte sie es nicht länger ignorieren.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihr Schicksal einer Handvoll beschriebener Papierseiten anzuvertrauen?
Warum hatte sie keinen anderen Weg gefunden, dieses lebensentscheidende Gespräch mit Cat Noir zu führen?
Vielleicht hätte er ihren Standpunkt leichter akzeptieren können, wenn sie ihm dabei in die Augen gesehen hätte.
Vielleicht hätte sie doch besser bei ihm bleiben sollen.
Vielleicht hätte sie sich länger Zeit zum Schreiben nehmen sollen, als nur ein paar Stunden direkt nach dem Aufwachen.
Und vielleicht hätte sie -

Die kleine blinkende »1« hinter dem »Posteingang«-Button unterbrach ihre Gedanken.
Sie hatte eine Mail bekommen.
Noch immer leicht zittrig griff sie nach der Maus und führte den Cursor über die entsprechende Stelle.
Sie wünschte sich, Tikki wäre da, um ihr Mut zuzusprechen.
In Momenten wie diesem vermisste sie ihr Kwami noch mehr als sonst.

Es war ein ungewohntes Gefühl, was sie nun überfallen hatte und sie davon abhielt, den entscheidenden Klick zu tätigen.
Diese Nervosität ...
Beinahe fühlte sie sich wie ein ganz normales Teenager-Mädchen, das eine Nachricht von ihrem Crush erhalten hatte, nachdem sie ihm in der Schule heimlich einen »Willst du mit mir gehen?«-Brief zugesteckt hatte.
Ihr war bewusst, wie weit entfernt die Realität davon war – geheime Identitäten, eine kurze Beziehung, Trennung, eine Schwangerschaft und einen Beinahe-Weltuntergang entfernt davon, um genau zu sein.
Trotzdem hatte die Nervosität etwas geradezu Unschuldiges an sich.

Sie wusste, dass dieser Eindruck nichts mit der Realität zutun hatte, doch für drei Sekunden genoss Marinette dieses Gefühl.
Sie suhlte sich in der Vorstellung von einem einfachen, unkomplizierten Auflösen der Umstände, von einer Verwandlung, die aus schier unlösbaren Superhelden-Beziehungs-Problemen wunderbar-normale Teenager-Probleme machte.
Sie wünschte sich nicht wirklich ein normales Leben - Warum sonst hätte sie sich in einen Kerl verliebt, der eine Maske trug, Superschurken bekämpfte und mit dem eine Beziehung unzählige Probleme mit sich brachte? – trotzdem konnte sie diesen kurzen Moment des Träumens genießen.

Sie war in letzter Zeit ständig überfordert von ihrem eigenen Leben gewesen. Sie würde es wohl nicht gegen ein normales, unkompliziertes 0815-Teenager-Leben eintauschen, aber solange Cat Noir ein Teil davon blieb, hätte sie nichts einzuwenden gegen ein paar Vereinfachungen.
Leider war das gerade nicht die Frage.
Die Frage war: Würde Cat Noir auch ohne jede Vereinfachung, ohne die Aussicht auf ein normales gemeinsames Leben, an ihrer Beziehung festhalten?

Marinette schloss die Augen und klickte auf den Posteingang ihres E-Mail-Postfachs.
»Bitte, sag mir, dass es dir damit genauso geht wie mir!«, flehte sie ihn im Stummen an.
Dann sah sie auf den Bildschirm und las, was er ihr geschrieben hatte.

Prinzessin,

danke, dass du mir all das geschrieben hast; danke für deine Offenheit, deinen Mut und dein Vertrauen in mich.

Es wäre gelogen, zu sagen, dass ich mir auch nur ansatzweise vorstellen kann, wie das mit uns funktionieren könnte.
Aber es wäre auch gelogen, zu sagen, dass ich mir ein Leben ohne dich vorstellen kann.
Und wenn ich die Wahl habe zwischen einer unvorstellbaren Zukunft mit dir und einer unvorstellbaren Zukunft ohne dich, muss ich keine Sekunde lang darüber nachdenken.
Denn noch etwas kann ich mir absolut nicht vorstellen: Es irgendwann zu bereuen, mit dir zusammen um uns gekämpft zu haben.

Miraculous - Unendlich (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt