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Als sie nach einem langen, anstrengenden Aufstieg die letzte Stufe hinter sich ließ, seufzte Marinette erleichtert auf.
Sie blieb einen Moment stehen, hielt sich am Geländer fest und wartete, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
Seit sie denken konnte, war diese Treppe Bestandteil ihres Zuhauses und sie war es gewöhnt, sie mit Leichtigkeit zu überwinden, ohne sie überhaupt richtig wahrzunehmen.
Jetzt gerade hatte sie sich die Stufen regelrecht nach oben kämpfen müssen und dabei war sie überraschend an ihre Kindheit erinnert worden.
Etwas in ihr kannte noch das Gefühl, das sie früher beim Anblick der Treppe gehabt hatte. Für die kleine Marinette, die eben erst gelernt hatte, zu laufen, war sie ein ernst zu nehmendes Hindernis gewesen.
Je länger und kräftiger ihre Beine geworden waren, desto leichter hatte sie es überwinden können, aber anscheinend war dieser Prozess umkehrbar.
Anscheinend brauchte es nur einen durch Schwangerschaft beanspruchten Körper und einen Nachmittag, an dem sie diesen Körper nicht geschont hatte.
Marinette war müde und erschöpft, aber davon abgesehen fühlte sie sich gut und das anhaltende, zarte Lächeln auf ihrem Gesicht war der Beweis dafür.
Sie war meilenweit davon entfernt, das Treffen mit Cat Noir zu bereuen.

Sie löste sich vom Geländer, holte den Haustürschlüssel aus der Tasche und betrat die Wohnung.
Ihre Eltern waren nicht da, weshalb sie zur Abwechslung ihre Gefühle an diesem Ort nicht verbergen musste.
Es tat gut.
An diesem Tag hätte es Marinette nicht gewundert, wenn ihren Eltern - selbst mit unterdrücktem Lächeln - etwas an ihr aufgefallen wäre.
Vielleicht ein allgemeines Strahlen, das von ihr ausging.
Ein besonderes Funkeln in ihren Augen.
Oder ein zarter, rosa Hauch auf ihren Wangen.

So allerdings konnte sie völlig unbeobachtet zum Kühlschrank hinüber gehen und sich einen Teller mit verschiedenen, wild durcheinandergewürfelten Leckereien beladen.
Und während sie hinauf in ihr Zimmer ging, konnte sie bedenkenlos mit ihrer freien Hand über ihren Bauch streicheln und ihrem Kind ein paar liebevolle Worte zumurmeln.
Sie fragte sich, ob ihr Kind die gleichen Erfahrungen mit diesem Haus machen würde, wie sie selbst; ob die Treppen im Haus seiner Großeltern auch im Leben ihres Kindes zu den ersten, größeren Herausforderungen gehören würden.

In ihrem Zimmer angekommen, stellte Marinette den Teller auf ihrem Schreibtisch ab und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Sie musste sich noch umziehen, aber diesen kurzen Moment des Ausruhens gönnte sie sich.
Sie nutzte die Zeit, um das Ultraschall-Bild aus ihrer Jackentasche zu holen, und es zum unzähligsten Mal an diesem Tag zu betrachten.
Bevor sie von Cat Noir aufgebrochen war, hatte er ihr noch einmal für seinen Abzug des Bildes gedankt und ihr gesagt, wie viel es ihm bedeutete. Und bei ihrer Umarmung zum Abschied hatte er ihr zugeraunt: »Beim nächsten Ultraschall-Termin begleite ich dich.«
»Ich hoffe es.«, hatte sie in ihren Gedanken geantwortet und ihn liebevoll angelächelt.

Marinette verstaute das Bild in ihrer Schreibtischschublade unter einem Stapel Zeichenblöcken und begann dann, sich auszuziehen.
Als sie aus ihrer Hose stieg, blieb ihr Blick an ihren Oberschenkeln hängen. Dort waren blass die Abdrücke von Cat Noirs Griff zu erkennen.
Aus Erfahrung wusste sie, dass daraus bereits morgen ausgewachsene, blaue Flecken geworden sein würden.

Es war nicht das erste Mal, dass Cat Noir mit seiner Miraculous-Stärke Spuren auf ihrem Körper hinterlassen hatte, aber es fiel ihr schwer, ihm einen Vorwurf daraus zu machen.
In der Situation selbst hatte sie es kaum wahrgenommen.
Außerdem hatte sie ihn noch nie darauf aufmerksam gemacht und vermutlich wusste er nicht einmal, dass er sie auf diese Art zeichnete.
Ihm schien bewusst zu sein, wie sehr er ihr körperlich Überlegen war – immerhin ging er in weniger hitzigen Situationen sehr vorsichtig mit ihr um –, aber anscheinend dachte er nicht ununterbrochen daran und dafür hatte sie Verständnis.

Während sie mit ihren Fingern über die leicht verfärbte Haut strich, musste Marinette sogar ein kleinwenig lächeln.
Die Tatsache, dass Cat Noir sich nicht mehr hundertprozentig unter Kontrolle hatte, wenn er sie auf diese Art berührte, tat ihrem Selbstbewusstsein unheimlich gut.
Und auch wenn die Flecken leichte Verletzungen waren, gefiel es ihr, eine Erinnerung an diesen Nachmittag auf ihrem Körper zu tragen.
Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie daran dachte, dass sie Cat Noir heute zur Abwechslung ebenfalls »markiert« hatte.
Irgendwo in Paris war ein blondhaariger, grünäugiger, junger Mann unterwegs, dessen Hals ein großer Knutschfleck zierte.

Miraculous - Unendlich (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt