70. Kapitel

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Ihre Hand zittert, während sie versucht still zu stehen. Sie darf sich nicht bewegen, auch nicht wenn sie unglaublich wütend ist und jeden Moment in die Luft gehen könnte! Sie darf es nicht! Lou versucht sich an die Privilegien zu erinnern. Wenn sie sich jetzt ihrer Wut hingibt, dann können ihr die wieder entzogen werden. Sie sagt sich selbst, dass sie durchhalten muss. Ein paar Tage. Nur noch ein paar Tage, dann ist sie endlich befreit von all dem! Soll er doch mit seinen Bilden glücklich werden und so die Trennung überstehen! Wenn er sie überhaupt übersteht! Selbst wenn nicht, dann wäre es Lou egal. Soll er doch in Depressionen verfallen, sich das Leben nehmen wollen oder sonst etwas tun. In diesem Moment ist sie der vollen Überzeugung, dass es ihr nichts ausmachen würde und sie es sogar begrüßen würde. Von Schuldgefühlen merkt sie in ihrer Wut nichts.

Sie schließt ihre Augen, versucht so an etwas vollkommen Anderes zu denken und ihre schmerzenden Gliedmaßen zu ignorieren.

„Mein Engel, halte die Augen offen. Es dauert nicht mehr lange.", dringt die Stimme Malfoys an ihr Ohr. Sie ist weich, klingt aber wieder so, als würde er zu einem kleinen Kind und nicht zu seiner Verlobten sprechen. Ihre Kiefer mahlen aufeinander, so wie es die von Lucius oft tun.

„Es ist genial!", schwärmt der Maler und reißt Lou damit aus den Gedanken, die in eine ganz andere Richtung gehen, heraus. Anstatt sich wie kurzzeitig gewollt hinzusetzen, verharrt sie weiter und versucht ihr Lächeln aufrecht zu erhalten. Morgen hat sie bestimmt Muskelkater.

„Ich liebe es. Der Ausdruck könnte etwas freudiger sein, aber es ist nur allzu verständlich, dass es dir schwerfällt. Das ist ein wahres Kunstwerk!", strahlt Mr Robin, voll in seinem Element.

Als Lou die Worte hört, erstarrt ihre Mimik und ihre Augen gleiten nach längerer Zeit wieder zu Malfoy. Dieser dreht seinen Kopf langsam zu dem Mann neben sich und schließt seine Hand um seinen Gehstock. „Wie war das, Mr?", fragt er in einem leisen, bedrohlichen Ton.

Lou schluckt. Der Maler hat unabsichtlich einen Fehler gemacht und er, Lucius, scheint es ihm dennoch übel zu nehmen.

„Bitte? Ich verstehe nicht...", sagt der Maler abgelenkt und achtet kaum auf die schnaubende Gestalt neben sich.

„Das Duzen", zischt Lucius und geht bereits einen Schritt auf ihn zu.

Der Mann nickt und macht noch einen Pinselstrich. „Ach ja, entschuldigen Sie bitte. Es war nicht beabsichtigt. Verstehen Sie, wenn ich mich meiner Leidenschaft vollkommen hingebe, dann blende ich alles andere um mich herum aus. Ich habe mich nicht darauf konzentriert."

Lou mustert Lucius, als er sein Gesicht zu ihr dreht. Es scheint sich zu beruhigen und lässt an seinem Gehstock locker. Er nickt Lou zu und bestätigt damit, dass er die Entschuldigung des Mannes annimmt.

Lou nickt nicht zurück. Das macht sie nicht nur aus dem Grund, dass sie es des Bildes wegen nicht sollte, sondern auch weil sie es nicht will. Warum muss er nur immer so aggressiv und penibel sein? Kann er es nicht einfach sein lassen, es hinnehmen wie jeder andere Mann es tun würde? Sie kennt die Antwort darauf. Sie weiß, dass es etwas mit dem zu tun hat, wie er aufgewachsen ist und mit seine Störung in der Liebe. Aber wieso sieht er das selbst nicht? Wieso sieht er nicht, wie krankhaft sein Verhalten ist und ändert nichts daran?

Warum?

Warum gibt es niemanden, der ihm sagt, was er tun muss? Weil niemand weiß, was? Weil niemand sich dazu traut? Weil diejenigen, die es tun könnten, wissen, dass er Erkenntnis braucht, um es zu verstehen? Es ist wie bei Weisheiten, bei diesen Sprüchen über das Leben von alten Menschen. Als Kind ergeben sie keinen Sinn. Erst später, wenn diese abstrakt denken können und sich damit beschäftigen. Erst dann verstehen sie, was damit gemeint ist. Als Kind empfanden sie es störend. Es war ihnen egal, was diese Sprüche bedeuteten. Sie habe es erst verstanden, als sie erkannt haben, was wirklich damit gemeint ist.

Wenn man Lucius nun sagen würde, was er alles falsch macht etc., dann würde das nichts bringen. Er hält das was er tut für richtig, versteht nicht, was andere ihm damit sagen. Er würde sie als Schwätzer, als Dummköpfe ansehen, die ihm nichts zu sagen haben.

Bei Lou wäre das nicht anders. Er würde sie auch so ansehen und es würde ihr nur noch schlechter gehen.
Die Wut steigt weiter in ihr. Am liebsten würde sie etwas nehmen und es mit voller Wucht auf ihn schmeißen! Sie will ihrer Wut freien Lauf lassen, ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Lou will die entstehende Wärme verschwinden lassen und die Schmerzen des langen Stehens ausblenden!

„Soooo, der letzte Pinselstrich. Es ist schon gut, aber ich muss noch ein paar Verfeinerungen vornehmen.", sagt der Künstler und entfernt sich zufrieden von der Leihwand und streicht den Pinsel an dem T-Shirt vor seiner Brust ab.

Lucius nickt zufrieden und tritt hinter ihn. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinen Zügen auf.

Lous Beine zittern in freudiger Erwartung, sich wieder bewegen zu dürfen. Sie geht einen Schritt nach vorne und merkt, wie sich ihre Beine anspannen und sie seltsam läuft. Sie hält großen Abstand zu ihrem Verlobten, als sie auf die Leihwand schaut.

Dieser dreht sich zu ihr um und zieht sie kurzerhand am Handgelenk zu sich und legt einen Arm um sie.

Lous Augenlid zuckt gefährlich. Sie schaut auf das Gemälde und nickt nur. Schon jetzt sieht es lebensecht aus. Der Künstler hat gute Arbeit geleistet. Auch wenn sie dafür bis tief in die Nacht stehen musste. Hätte Lucius das nicht auch vor Beginn des Semesters machen können? So wird sie in ein paar Stunden müde und kaputt sein, wenn sie in der Universität ist! Außerdem hat sie Hunger und Durst und ihr Kopf pocht, weil sie seit längerem nichts mehr getrunken hat.

Dann spürt sie auch noch die zusätzliche Wärme von Lucius an sich. Sie spannt sich weiter an und nimmt dann seine Hand, die nun über ihrer Brust liegt. Sie entfernt den Arm von ihrem Körper und entfernt sich ein Stück von ihm. Lucius hebt eine Braue, will nach ihr greifen, aber Lou schüttelt den Kopf. Bemüht ruhig presst sie folgendes hervor: „Fass mich jetzt nicht an."

Malfoys Miene wird düster. „Wir gehen nun.", sagt er hart und kalt. „Ich werde das Gemälde bald abholen. Und du, Lou... kommst jetzt mit." Sie merkt an seinem Tonfall, dass er ebenfalls bis zum Zerreißen gespannt ist.

Der Künstler setzt zu sprechen an, möchte wohl etwas über den Umgang von Malfoy mit ihr sagen. Aber er kommt nicht dazu, etwas zu sagen. Lucius greift nämlich grob nach ihrem Handgelenk und zieht sie hinter sich her, weil sie sich nicht bewegt hat. Die Wut in ihr verschwindet und wandelt sich zur Angst, als er sie aus dem Gebäude zieht.

Er läuft viel zu schnell für sie und schleift sie hinter sich her. Sein weißblondes Haar schwebt hinter ihm her, als er sie durch die Tür befördert.

Er nutzt zwei Sekunden, um sich nach jeder Seite umzusehen. Niemand ist in der Dunkelheit der Nacht und der Gasse zu sehen, sodass er mit ihr auf die gegenüberliegende Wand zusteuert. Ohne Gnade packt er sie an den Schultern und drückt sie gegen die Wand. Seine Augen funkeln.

Unbändige Wut ist in ihnen zu erkennen.

Besitz, Liebe, Schmerz, Zweifel - Lucius MalfoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt