Kapitel 26

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„Es tut mir so unfassbar leid, Milady“, der Fremde aus dem Krankenhaus drückt mich fester an sich und ich weine meinen ganzen Schmerz in seinen Pullover. Er presst mich mit seinen Armen noch fester an sich und ich spüre, wie er versucht meine Scherben nicht fallen zu lassen, wie er versucht mich aufzusammeln, wie er sich bemüht meine Asche nicht im Wind zu verlieren. Ich presse meinen Kopf so sehr an ihn, dass ich seinen Herzschlag höre. Wie ein sanftes Schlaflied beruhigt es mich, sein Herz zu hören. Doch trotzdem weine ich bitterlich. Der Junge, der mich noch nie zuvor gesehen hat und mich so festhält, dass ich gar nicht anders kann, als mich sicher zu fühlen, sieht meinem Vater in gewisser Weise ähnlich. Mein Vater…

Erschrocken reise ich meine Augen auf und schnaufe laut durch. Meine Stirn fühlt sich kalt an und ich höre ein leises Piepen in meinem rechten Ohr. Ich lege meine Hand auf die Brust und atme tief ein und aus, mein Herz droht aus meinem Körper zu springen. „Okay, okay, okay, okay, okay, okay, okay…“, wiederhole ich leise beim ein und ausatmen, um mich zu beruhigen. Mein Blick wandert zu Adam, der seelenruhig wie ein kleines Kind schläft. Seine Hände liegen auf meinem Bauch und sind, als ich mich aufgesetzt habe etwas runtergerutscht. Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und lächle, er sieht wirklich sehr süß aus. Ich streiche ihm leicht über sein Haar und dann über seine Wange.

Leise steige ich aus dem Bett heraus und humpele barfuß über den Boden zur Tür. Mein Fuß pocht noch ein wenig, doch es ist schon etwas besser. Die Küche war doch genau gegenüber von der Eingangstür, oder? Als ich durch den dunkeln Flur laufe und die Küche finde merke ich, dass die Eingangstür nicht komplett gegenüber von der Küche ist, man sieht kaum etwas von dem Schuhschrank, geschweige denn von der Tür.

Mit einem Klicks ist das Licht angeschaltet. Ich reibe kurz meine Augen, da dieses doch sehr hell ist. Mein Durst wird mich nicht schlafen lassen, außerdem kann ich nach so einem Albtraum nicht mehr schlafen. Vor allem wenn Adam schon schläft und mir keinen Komfort und keine Ruhe zusprechen kann. Die Nacht in der mein Vater und meine Schwester verstorben sind, spielt nur Bruchteile in meinem Gehirn. Mein Trauer Mechanismus lies mich alles verdrängen und vergessen. Manchmal bin ich dem ganz dankbar. Jedoch schaffe ich es nicht den Fremden zu vergessen. Ich habe nie wieder an ihn gedacht, es war anstrengend, aber ich konnte ihn wegdrängen. Ich erlaubte mir nicht länger als fünf Minuten über ihn nachzudenken. Wieso träume ich heute von ihm? Seit wann träume ich so akkurat von der Vergangenheit?

Während ich so nachdenke und versuche nicht in ein Futter oder Wassernäpfchen zu treten, bin ich auf der Suche nach einem Becher oder einer Tasse und tatsächlich, in einem der braunen Küchenschränke finde ich ein blaues Glas. Wo der Kater wohl schläft, wahrscheinlich im Schlafzimmer von Adams Mitbewohner Dane. Schnell lasse ich kaltes Leitungswasser in mein Glas laufen und trinke es gleich aus. Vielleicht erinnert mich Adam an den Jungen aus dem Krankenhaus und deswegen träume ich jetzt von ihm. Aber Adam sieht ihm gar nicht so ähnlich, nur die braunen Haare vielleicht und die Größe. Ich spüre ein Kribbeln in meinen Händen und in der Brust. Eine Ruhe breitet sich in mir aus und ich schließe vor Entspannung sogar kurz meine Augen. Diese Wohnung verbirgt eine geheimnisvolle, doch zugleich beruhigende Atmosphäre. Als wäre es richtig, jetzt hier zu sein.

Jedoch fällt mein Herz zehn Meter in die Tiefe, als ich plötzlich etwas höre. Jetzt bin ich sogar noch angespannter, als ich es nach dem Albtraum war. Der Raum wird auf einmal heller, doch das Licht ist im Gegensatz zum Küchenlicht weiß. Ich drehe mich kurz um und schaue aus dem kleinen Fester, die Wolken ziehen weiter und eine davon verdeckte vorhin den prächtig leuchtenden Mond.

Das Geräusch wird lauter und jetzt erkenne ich, dass es Schlüssel sind. Ein weiteres Geräusch erschreckt mich, es ist ein Miauen und viele kleine Schritte aus dem Wohnzimmer, die immer näher zu kommen scheinen. Ich höre, wie sich die Eingangstür öffnet, jemand die Wohnung betritt und sich die Tür nun leise wieder schließt. Adam ist doch im Schlafzimmer, oder? „Adam?“, meine Stimme ist leiser und hauchiger als der Schnee in einer ruhigen Winternacht. Ich traue mich nicht lauter zu reden und bleibe angewurzelt in der Küche stehen. Adams Mitbewohner sollte das Wochenende über nicht kommen, oder? Ich erinnere mich nicht mehr! Was ist, wenn das ein Einbruch ist? Aber welcher Einbrecher verwendet Schlüssel? Ich laufe trotzdem zu den großen Messern und will nach einem greifen, doch da steht schon jemand im Türrahmen der Küche.

ChérieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt