Kapitel 2

67 9 0
                                    

„Und? Stimmt ihr Schiller zu? Glaubt ihr an eine solche Begegnung? Eine die euer Leben für immer verändert?“, auf die gestellte Frage unseres Lehrers reagiert der Leistungskurs mit Getuschel und einige Hände gehen hoch. Die Begegnung, vielleicht sollte ich mir das Gedicht auch mal durchlesen…

Olivia würde in dieses Gedicht so viel hineininterpretieren. Doch das ist einer der Kurse, die ich ohne sie besuche. Sie fand Geschichte interessanter.

„Was ist mit dir, Henry? Willst du deine mündliche Note nicht mit ein wenig Poesie verbessern?“

Er hört auf in sein Heft zu kritzeln und schaut Mr Wisch an.

„Natürlich gibt es solche Begegnungen. Aber das ist ein Liebesgedicht. Die Begegnung, die das lyrische ich gemacht hat, bringt ihm entweder eine glückliche Liebesgeschichte oder ein restliches Leben kaputt und allein“, während er redet, spielt er mit seinem blauen Kugelschreiberund sein Blick fliegt bei jedem dritten Wort zu der Uhr.

„Ja, aber das hängt alles vom Schicksal ab. Er schreibt, irgendwas in ihm hat ihm plötzlich Mut gegeben. Vielleicht war es das Universum. Wer weiß, kann ja sein, dass wenn er sich nie getraut hätte, er die Liebe seines Lebens verloren hätte. Aber das Schicksal hat den beiden diese Begegnung geschenkt“, bricht eine andere Schülerin die unangenehme Stille die Henrys leicht depressive Aussage dagelassen hat.

Celeste wackelt nervös mit dem Bein und tippt mit den Fingernägeln auf ihren Zähnen herum, bis sie sich endlich auch zu Wort greift: „Wenn wir schon anfangen über Schicksal zu reden, können wir das Spektrum auch erweitern. Was wenn die Begegnung Schicksal war, diese Liebesbeziehung aber nicht. Kann ja auch sein, dass Schiller, also das lyrische Ich die Dame treffen sollte, aber um sie jemand anderem vorzustellen. Warum sagen Menschen immer, dass alles das Schicksal ist, gleich bestimmt ist für immer zu bleiben. Zum Beispiel mit-“

„So etwas wie Schicksal gibt es doch nicht. Alles geschieht aus Zufall. Du denkst doch nicht ehrlich, dass es nur eine wahre Liebe gibt?“, sagt eine andere Schülerin und verzieht die Augenbrauen. Celeste äfft sie leise nach was mich zum Lachen bringt: „Ist die dumm, das wollte ich doch erklären“

„Ich sehe, euch interessiert das Thema. Ich möchte, dass ihr mir bis zur nächsten Stunde, ich denke das ist am Montag, das Gedicht interpretiert. Ich werde es einsammeln und benoten“, ruft Mr Winsch ins Klingeln.

Ich ziehe meine Tasche über die rechte Schulter, als Henry auf mich zu kommt und sich mir gegenüber vom Tisch stellt.

„Können wir kurz reden“, er wirkt nervös und leicht überfordert, weswegen ich nur „Ja, natürlich“ rausbekomme.

Ich laufe mit ihm durch den vollen Flur und in den Aufzug.
Etwas angespannt klammre ich mich um meinen Ordner und schaue kurz zu ihm. Er hält mit der einen Hand an seinem Rucksack, den er nur zur Hälfte angezogen hat, so wie ich, und die andere Hand hat er in seiner Hosentasche.

Ich schaue kurz hoch von seinem scharf geformten Gesicht bis zu seinem schwarzen Haaren. In dem Moment treffen sich unsere Blicke. Ich schaue schnell wieder zu Boden.

„Ich habe den PIN von meinem alten Handy knacken können“

Da öffnen sich die Aufzugstüren und eine junge Schülerin mit Krücken möchte rein. Wir laufen raus und setzen uns im Foyer auf eine Bank. Die Privatschule, auf welche ich gehe, ist ziemlich altmodisch eingerichtet. Andererseits haben wir viele Smartboards, was nicht viele Gymnasien hier haben.

„Ich habe es am Wochenende hinbekommen“, er schaut mir in die Augen.
„Und du sagst es mir erst heute? Wieso?“, verwirrt schaue ich ihn an. Warum würde er vier Tage damit warten?
„Keine Ahnung, du warst so glücklich diese Woche, ich wollte dich nicht traurig machen. Außerdem habe ich keinen richtigen Moment gefunden“, er holt aus seinem Rucksack ein schwarzes älteres I Phone heraus.

„Sind viele Videos drauf?“

Ich schaue auf das Handy und dann zu Henry.
„Es sind mehr Bilder“, seine Stimme wird weich und seine Augen warm. Vorsichtig gibt er mir das Handy in die Hand.

„Ich habe den PIN entfernt. Nimm dir Zeit. Behalte es, auch wenn du willst“, sagt er und nimmt für keinen einzigen Moment seine Augen von meinen.

„Wieso tust du das?“

„Was?“, fragt er und setzt sich etwas bequemer hin.

„Das alles. Nachdem was passiert ist. Mit...-„
„Mit uns?“, unterbricht er mich und schaut mich mit großen Augen an. Das Licht hier ist nicht gerade hell, weshalb seine Pupillen groß sind und das Blau in seinen Augen dunkel. Ich nicke nur.

„Du bist mir immer noch genauso wichtig wie damals... Es tut mir leid, Elena“

„Hör auf, Henry. Bitte“, ich schaue zu Boden.

Doch da spüre ich seine Hand an meiner Wange. Er zieht mein Gesicht hoch zu sich.

„Ich vermisse dich“, flüstert er und lässt von mir los. Seine Hand war warm und weich. Noch so bekannt aber nicht mehr dieselbe.

„Danke, für das Handy“, sage ich und versuche zu lächeln. Langsam, um nicht unhöflich zu sein, stehe ich auf und gehe. Ich kann ihm verzeihen aber nicht vergessen. Vielleicht war er auch gar nicht seine Schuld. Diesen Gedanken hat mir Olivia schon versucht so schmerzlos wie nur möglich zu übermitteln. Aber ich habe Angst zu glauben, dass ich an allem schuld war.

Ich höre, wie er aufsteht und mir nachläuft.
„Ella, bitte warte“, höre ich, doch da kommt Alex auf mich zu.

„Ach hier seid ihr“, grinst er als er Henry sieht.
„Alex!“, erleichtert schnaufe ich durch.

„Kannst du mir in dieser Freistunde Mathe erklären?“

„Klar, kann ich machen. Henry? Kommst du?“, wir schauen beide zurück, wo Henry noch vor zwei Minuten gestanden hat. Er ist nicht mehr da.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragt Alex als wir die Treppen runter laufen.
„Im Gegenteil. Ich denke nur es war ein Fehler, Freunde zu bleiben“, sage ich und presse meine Lippen zusammen.

Ich will die Tür zum Aufenthaltsraum öffnen, doch Alex hält mich zurück.

„Warte. Wieso? Was hat er gesagt?“, sein Gesichtsausdruck wirkt besorgt.
„Du musst nicht so tun, als wüsstest du nichts. Ihr seid beste Freunde. Er sagt dir bestimmt alles“, lache ich leicht.

„Er hat mir gesagt, dass er noch Gefühle für dich hat. Aber solange du glücklich ohne ihn bist, wird er dich in Ruhe lassen. Was hat er heute gemacht“, Alex zieht seine Augenbrauen zusammen und der vorhin besorge Gesichtsausdruck wird ungeduldig.

„Alex. Mach dir keine Sorgen. Er hat gesagt, dass er mich vermisst. Es lässt mich schlecht fühlen. Ich fühle mich wie ein schlechter Mensch, weil ich ihn allein gelassen habe“, ich stelle meinen Ordner auf dem Boden an die Wand gelehnt und setze mich daneben. Alex tut es mir gleich und nimmt dabei meine Hand.

„Henry ist mein bester Freund. Und du bist meine älteste und beste Freundin. Und so sehr ich auch versuche Henry zu beschützen, er hat dich als erstes im Stich gelassen. Elli, es ist nicht deine Schuld, wenn er nicht über dich hinwegkommt. Na ja, eigentlich ja doch, wenn du so ein toller Mensch bist, den man einfach nicht loslassen kann“

Ich lächle und schaue nun vom Boden auf. Wie einfach, doch alles scheint, wenn man die richtigen Leute um sich hat, die einen unterstützen.

„Jetzt komm. Ich meine, ich kann dir Mathe auch hier auf dem Boden erklären, aber ich denke mal, dass es im Aufenthaltsraum bequemer ist“, er steht auf und hält mir lächelnd seine Hand hin.

ChérieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt