Kapitel 3

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Vorsichtig drehe ich die Schlüssel im Tür Schloss. Zum Glück ist die Tür zugeschlossen. Ich bin allein zu Hause. Meine Mutter ist wahrscheinlich einkaufen gegangen. Denn diese Woche sollte sie eigentlich Nachtschicht im Krankenhaus arbeiten. Entspannt ziehe ich meine Schuhe aus und laufe mit meiner Tasche hoch.

Vieles wird gleich hochkommen. Indem ich dieses Handy anmache und mir die Bilder anschauen werde, werde ich wieder etwas fühlen. Zuerst dachte ich, ich sollte es lassen. Wozu unnötige Schmerzen aufbringen? Aber es muss sein. Ich muss damit fertig werden.

Als ich das Handy anschalte und entsperre sehe ich ein Bild von mir und Henry als Hintergrund. Ich sehe glücklich neben ihm aus, das muss ich zugeben.

Ich gehe auf die Galerie und auf den Ordner „Kamera".

Es sind vor allem Bilder von Blättern und Hefteinträgen. Doch da kommen die interessanten Bilder. Erst sind es nur Gruppenbilder von uns allen. Es folgen Bilder von mir und ihm. Ich scrolle etwas weiter. Da. Da fängt es an. Sie. Sie ist auf den Bildern zu sehen. Ob im Hintergrund oder in der Mitte des Fotos. Es ist sie. Mary. Meine Schwester. Ich sehe mir die Bilder an. Sie ist wunderschön, obwohl sie mir ähnlichsieht. Mary Osborne.

Wie meine Mutter wohl reagieren würde, wenn sie diese Bilder sehen würde? Würde sie weinen?

Ich habe sie noch nie so schwach und zerbrochen wie an dem Tag ihrer Trauerfeier gesehen. Zwei Särge nebeneinander. Vater und Tochter zusammen gegangen, zusammen für die Ewigkeit. Ich könnte meiner Mutter diese Bilder nie zeigen. Nie. Ich will nicht, dass sie sie sieht und mich wieder anschreit. Mir wieder die Schuld gibt. Ich schicke mir die Bilder über WhatsApp. Ich will Henrys Handy nicht bei mir behalten.

Und wieso schaust du dir dann eure Bilder immer noch an, kritisiert mich meine Kopfstimme wieder.

Weil ich damals noch glücklich war. Ich denke, das habe ich teilweise Henry zu verdanken. Aber er war der Grund, weshalb mein Vater und Mary im Auto saßen. Er war es.

Es ist 3 Uhr nachts an einem Samstag. Mary und Dad sind vor einer Stunde gestorben. Gestorben. Tot. Weg. Für immer und ewig.

Ich bin mit meiner Mom vor einigen Minuten aus dem Krankenhaus zu Hause angekommen. Vorsichtig fasse ich ihr an die Schulter. Doch sie zuckt sie nur weg.

Ich sollte noch nicht ahnen was mich in den nächsten Nächten erwartet. Die Schreie. Ihre Schreie. Meine Schreie. Mein schlechtes Gewissen welches mich fast in den Selbstmord treiben würde.

„Mom?", frage ich in einer Stimme, die droht in tausende von Scherben zu zerfallen.

Sie antwortet nicht und schaut weiter aus dem Küchenfenster in den Hof. Der Hof, der von nichts außer der einen Laterne, die am Tor steht, beleuchtet wird.

Ich drehe mich um und laufe die Treppen hoch. Leise drehe ich den Schlüssel in meinem Türschloss.

Ich greife an mein Regal, um mich festzuhalten.

Stimmen schreien in meinem Kopf. Es sind Worte. Laute schreckliche Worte die ich nicht verstehe. Als würde es der Teufel selbst schreien.

Ich laufe weinend zum Fenster, um es sofort zu öffnen. Meine Lungen füllen sich mit Luft, doch ich kann nicht atmen. Mein Blut strömt durch meine Adern, doch mein Herz schlägt nicht.

Ich taste in meiner Hosentasche nach meinem Handy.

Es vibriert ununterbrochen. Wieso würde er mich jetzt anrufen? Aus schlechtem Gewissen? Ich will ihn nie wiedersehen. Jeder Mensch der mir heute begegnet ist. Von Henry bis zu dem Jungen, der auch sein Weinen schwer unterdrücken konnte als wir im Wartezimmer der Notaufnahme warteten, einschließlich zu dem Arzt, der in meinen Augen nicht alles in das Leben meines Vaters und meiner Schwester steckte.

Ich bin schuld. Nie wieder werde ich etwas tun, weil mich jemand dazu überredet oder zwingt. Manche Fehler kosten Leben.

Ein letztes Mal schaue ich auf die zwei leuchtenden Augenpaare die sich verliebt anschauen. Morgen werde ich Henry sein Handy wiedergeben. Ich wollte nur die Bilder von Mary. Vielleicht war es eine falsche Entscheidung wieder mit Henry zu reden. Nachdem ich es beendet habe, redeten wir den ganzen Sommer nicht miteinander. Naja, nach den Wochen in denen Henry alles versucht hat, um für mich da zu sein. Doch ich war nicht da. Ich bin mit Olivia nach Italien gefahren.

Ich brauchte Abstand von dem Ort der sich nicht mehr wie zu Hause anfühlt.

Nach den Sommerferien taten wir auf einmal alle so, als ob nichts wäre. Vielleicht war auch nichts und ich übertreibe. Ich stelle mir sehr oft Sachen in meinem Kopf vor, und weiß am Ende nicht mehr was real ist. Aber was ich weiß, ist das ich einen Neustart brauchte. Eine Zukunft ohne Mary war unvorstellbar. Doch in den Wochen erfüllt von Trauer entschied ich mich dazu, Henry loszulassen.

Diese Nacht wird mich immer heimsuchen. Doch am meisten tut weh, dass ich meine Familie an jemanden verloren habe, den ich nicht einmal liebte.

ChérieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt