22.Kapitel

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Es ist irritierend sich beim Aufschließen der eigenen Wohnungstür plötzlich anders zu fühlen als in den vorherigen Wochen. Als hätte man plötzlich einen tiefgreifenden Lerneffekt durchlebt oder eine schicksalsgebende Audienz bei seinem Vorgesetzten gehabt. Dabei ist alles was sich innerhalb der letzten Stunden in meinem Leben verändert hat die Personenanzahl eines Cafés gewesen. Und die Entwicklung von innerer hoffnungsfroher Erwartungshaltung hin zu geschockt zynischem Selbstspott.

Es ist abwechslungsreich unterhaltsam mich selbst dabei zu beobachten wie ich auf Runa reagiere. Darauf, dass unser Wiedersehen so anders ablief als erwartet. So außerhalb jeglicher im Voraus getroffener Vorstellungen.

Am Abendessenstisch entgeht mir ein Großteil der tadelnden Kommentare meiner Mutter. Dennoch realisiere ich, dass sich die Rollen verschoben haben zu scheinen, denn heute sorge nicht ich, sondern Taraneh durch akzeptierendes Gemurmel dafür, dass die Unterhaltung nicht plötzlich abbricht und in unangenehmer Stille versickert.

Ich starre in die klare Flüssigkeit meines Glases, spieße willkürlich Gemüse auf meine Gabel und höre wiederholt den Ton des Misstrauens in Runas Stimme, den ich während ihres Gesprächs mit Carlin aufgeschnappt habe und seither nicht mehr vergessen kann. Während ich die Paprika in meinem Mund in kleine Stücke zermalme habe ich das Gefühl mehr Himbeer-Cupcake als Paprika-Aroma zu schmecken. Fühlt sich so der Prozess einer Realitätsentfremdung an ?

"Ich finde ja ihr solltet so langsam eure Playmobilsammlung rausschmeißen. Ihr seid  ja schließlich alt genug und ich bezweifle, dass dieser Plastik-Ramsch in euren Zimmern nochmal Verwendung finden wird." Etwas aus meiner Gedankenbahn geworfen musterte ich meine Mutter und ihren taxierenden Blick. Taraneh, die mir gegenüber sitzt, verschränkt ihre Arme in einer abwehrende Haltung vor der Brust und kneift die Augen zusammen. "Ich sehe keinerlei Problematik in der Anwesenheit meines Playmobils." Wüsste ich es nicht besser könnte man meinen, sie hätte wirklich erst vor kurzem wieder damit gespielt und fühle sich persönlich angegriffen. Ich seufze leise. Diese Esstisch-Konversation ist kein Pfund absurder als gewohnt...

"Was gibt es denn sonst so Neues?", erkundige ich mich. "Etwas weniger schleppende Langeweile und Gleichgültigkeit in deinem Tonfall junger Herr und das Licht in diesem Raum wäre nicht ganz so kalt in seiner Wirkung." Während meine Mutter den Versuch einer poetisch angehauchten, jedoch überflüssigen Kritik auf klägliche Weise an mich richtet, erhellt sich Taranehs finsterer Blick schlagartig.

"Passend zum Thema Licht gibt es da tatsächlich etwas von dem ich dir noch nicht erzählt habe, Lean." Irgendwas an ihrem rasant erschienenen Grinsen lässt mich ungute Neuigkeiten ahnen.

"Nächstes Wochenende gibt es in dieser neuen Disko eine Art Eröffnungsfeier auf die auch 16-jährige dürfen!", fährt sie fort. "Cool.", erwidere ich und bemühe mich eines unbeteiligten Gesichtausdrucks, obwohl mir bereits dämmert, worauf sie hinausmöchte.

"Naja, das einzige Problem ist, dass man eine volljährige Begleitung braucht." Eine weitere Information, die vorhersehbar war, in meinem Fall jedoch an die falsche Person adressiert ist. Die Kombination zwischen geschmolzenen Käse, Tomate und angedünsteten Zwiebeln ist wirklich ausgesprochen sympathisch.

"Du bist über 18." Taranehs Tonfall klingt jetzt leicht anklagend  und das enthusiastische Funkeln, das noch kurz zuvor in ihren Augen abzulesen war, hat plötzlich einem Hauch von "Wag es bloß nicht!" Platz gemacht.

"Mmh. Isch weisch.", entgegne ich mit vollem Mund und ignoriere gekonnt den scharfen Blick seitens meiner Mutter. Dann kommt in mir plötzlich das schlagartig Bedürfnis auf, den Raum zu verlassen. Ich schnappe meinen Teller, schiebe die restlichen Kartoffeln flink in den Topf zurück, stehe auf und stelle mein Geschirr in die Spüle.
"Seit wann verlassen wir denn mit solcher Manier den Esstisch, Lean? Meine Nerven sind so langsam strapaziert..."  Von dieser Thematik könnte ich inzwischen ganz sicher auch ein Lied singen... In mir ploppt erneut das Bild von Runa auf. Lässig an Carlins Tresen lehnend. Aus dem Flur höre ich das verräterische Schaben diverser Küchen-Stuhlbeine. Als ich auf der Treppe nach oben in mein Zimmer gehen will passt mich Taraneh ab, indem sie einen Schuh so knapp an mir vorbei nach oben wirft, dass ich schwören könnte, dass er mein Ohr gestreift hat.

Seufzend und leicht entnervt drehe ich mich zu meiner kleinen Schwester um. "Tara, du weißt genau wie wenig ich für Disko-Besuche übrig habe. Such dir jemand anderen. Ich bin mir sicher du kannst deine Kontakte anderweitig spielen lassen." Sie steht am unteren Ende der Treppe, die Hände stoisch in die Hüften gestemmt. "Ich hab Milo schon versprochen, dass das klappt und wir mit dir reinkommen können. Lass mich da jetzt bitte nicht hängen."

"Du bist 16 verdammt und keine fünf mehr! Ein paar Sachen solltest du inzwischen ja wohl ohne mich an deiner Seite schaffen." Irgendwas in mir brodelt an die Oberfläche und es fühlt sich plötzlich an, als würde meine Brust unter Strom stehen.
Taraneh kneift die Augen zusammen. "Bist du nicht immer der, der sich mehr Unternehmungen zusammen wünscht? Der mir immer Tipps und Ratschläge gibt, mit der Absicht, dass ich mal rauskomme, die Schule vergesse, mich fallen lasse? Dieser Abend in der Disko wäre dafür DIE Gelegenheit."

"Mag alles sein.", entgege ich, auch wenn es mich irgendwie auf wütende Weise schmerzt, dass sie meine Sehnsucht nach Zweisamkeit zwischen Geschwistern wohl bemerkt zu haben scheint und dennoch kaum darauf eingegangen ist. "Was allerdings absolut daneben ist, ist, dass du dich immer im Voraus schon verplapperst wenn du dann tatsächlich mal was mit mir machen willst. Wobei das mit der Disko vorallem dein Ego-Ding ist und du mich nur für deine Zwecke brauchst, als Freikarte in die grottige Partybucht. Du könntest mal anfangen mich zu gewissen Dingen im voraus zu fragen anstatt deinem Umfeld unfundierte, leere Versprechungen zu machen, nur um sie gegen mich auszuspielen. Ich hab da echt genug von, kannst mich mal mit deinen Spielereien und Manipulationen!" Schneller, als dass ich es noch hätte verhindern können, landet meine Faust auf dem Griff des Treppengeländers. Taraneh zuckt synchron zu dem lauten Krachen zusammen und aus der Küche ertönt ein "Was zur Hölle!!..", in der schrillen Tonlage meiner Mutter, gefolgt von hastigen, näher kommenden Schritten.

Ohne ihnen in die Augen zu blicken drehe ich mich um, stampfe die letzten Treppenstufen hinauf und hetze in mein Zimmer. Meine Hand tut unglaublich beschissen weh. Der Schmerz zieht in mein Handgelenk und ich will einfach gar nichts mehr von diesem verfluchten Tag mitbekommen. Es fühlt sich an, als würde etwas in mir rasen, etwas, was sich überall anstößt, was schreit und schreit und schreit und nach Atem ringt. Ich falle auf mein Bett, presse das Kissen auf meinen Kopf und verkralle meine Finger solange in dem Stoff, bis sich das Gefühl verändert und ich den Eindruck habe, dass das Blut nicht mehr normal hindurchfließt. Es gibt mir ein befriedigendes Empfinden in diesem Schmerz zu versinken, der so durch und durch falsch ist. Aber dennoch. Er passt zu gut zu dieser intensiven Art von Selbsthass, die in mir aufgekommen ist in dem Moment, in dem meine Stimme gegenüber Taraneh das erste Mal laut geworden ist. Das alles ist genau so wie es sein sollte. Dieser Dreck in mir, ist genau die Art von Welt, die ich verdiene nach all diesen Worten, nach all diesen gelesenen Seiten, zu denen ich nie eine legitimierte Berechtigung hatte.

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt