Wiedereinmal bin ich erleichtert, als sie den Bus betritt. Ich bin selbst überrascht, dass sie während meiner Busfahrten so im Vordergrund steht, obwohl wir noch nie miteinander geredet haben. Heute hat sie eine kurze Hose an, es ist einer der seltenen wirklich warmen Tage im Oktober. Ihr Ironmaident-shirt sieht verwaschen und alles andere als neu aus.
Mit regloser Miene zeigt sie dem Fahrer ihre Busfahrkarte. Dann geht sie den Gang entlang, wie jeden Tag. Ich rechne damit, dass sie zielstrebig zu ihrem gewohnten Platz, in dem Vierer, geht, ohne den Blick zu heben.
Doch ich habe mich getäuscht. Sie setzt sich auf ihren Platz, aber anstatt direkt ihr Buch aus dem Rucksack zu holen, blickt sie aufeinmal auf und ihr Blick trifft meinen. Wir sehen uns an, ich weiß nicht ob dieser Blickkontakt länger dauert als es üblich ist. Ich weiß nicht, ob ich lächeln sollte, oder wegschauen. Ihr Blick trifft auf meinen und es ist, als würden mich diese braunen Augen, die gar nicht einmal so besonders sind, alles vergessen lassen. Sie wendet sich ab und schaut, anstatt zu mir, aus dem Fenster. Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet ?
Blöd ist nur, dass ich nicht weiß ob sie mich wirklich wahrgenommen hat, ob sie weiß, dass ich ihr immer gegenüber sitzte, mit zwei Reihen zwischen uns, ob sie weiß, dass wir jeden Tag im selben Bus sitzen. Sie wirkt unfassbar selbstbewusst und nicht so, als ob sie leicht aus der Ruhe zu bringen wäre. Auch jetzt, während in meinem Kopf eine Vielzahl an Gedanken wie lose Bausteine umherpurtzelt, greift sie gelassen in ihren Rucksack und holt das Buch heraus. Sie nimmt einen Stift aus dem schwarzen Stoffmäppchen in ihrem Rucksack und beginnt zu schreiben.
Ich wüsste gerne, ob ihr bewusst ist, wie sehr sie mit ihrem Auftreten aus der Reihe tanzt. Dieses Mädchen ist wie eine warme Tasse Lieblingstee, nach einem anstrengenden Tag, für meine Seele. Es tut gut zu sehen, dass es Menschen gibt, die sich von dieser Welt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sie ist, wie sie ist und sie kann sein, wer sie sein will. Niemand schreibt ihr etwas vor und niemand beurteilt sie, weil sie so anders ist, dass sie nicht nur oberflächlich herasusticht.
Wenn sie den Bus betritt, verändert sich die Stimmung. Jungen und Mädchen, in unserem Alter, blicken immer wieder verstohlen zu ihr. Alte Leute lächeln ihr zu, denn sie schreibt. Sie schreibt und sie sitzt nie an ihrem Handy oder starrt gelangweilt ins Leere. Sie schreibt und es ist ihr egal, wie das nach Außen wirkt.
Sie steht im Mittelpunkt des Busses, wenn dieser Bus eine Bühne wäre, wären alle Scheinwerfer nur auf dieses Mädchen gerichtet. Während ich in der Menge untergehe und mich verliere in den Leben dieser Welt, die sich alle zu gleichen scheinen, ist sie der Vogel der sich in den Himmel erhebt, ohne sich bewusst zu sein, dass alle Augen nur auf ihn gerichtet sind.
Aber sie sticht nicht nur durch ihre Art hervor, ihr Style hebt sich ebenso von dem aller anderen ab. Sie trägt Kleidung, die getragen aussieht. Sie trägt nie etwas, was man auf der Straße ein zweites Mal sehen könnte. Oft ist sie dunkel angezogen, ich vermute, dass ihre Lieblingsfarbe entweder weinrot oder schwarz ist.
Es gab Momente, in denen ich mich fragte, ob sie nur so wirkt, wie sie wirken will. Schließlich ist es kein Geheimnis das es in manchen Gegenden als Mode gilt, durch seinen Individualismus aufzufallen. Durch einen erstellten Individualismus, der nicht aus einem eigenen Wunsch und Wohlbefinden hervorgeht, sondern aus dem Kopieren der Meinungen anderer. Wenn ich sie aber heute betrachte, wie sie mit ihren langen braunen Haaren, die sich an ihrem unteren Ende zu kleinen Spiralen drehen, und ihrem Bandt-shirt schreibend in einem Bus sitzt und einen Dreck darauf zu geben scheint, was andere denken, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemand ist, der sie nicht ist.
Ich wünschte sie würde mich erneut anschauen, nicht weil ich sie mag, oder weil ich sie hübsch finde, einfach nur weil sie besonders ist und ich ihr gerne sagen würde, dass sie nicht alleine ist. Dass ich auch aus der Reihe steche, auch wenn man bei mir vielleicht erst ein zweites Mal hinsehen muss, um das zu entdecken.
Wir fahren an dem blauen Rathaus vorbei. Heute ist ein besonderer Tag. Sie packt ihr Buch zusammen und ich warte geduldig. Der Bus bremst ab und ich stehe auf, so wie es das Mädchen zwei Reihen weiter macht. Heute werde ich nicht erst vier Stationen nach ihr aussteigen. Meine Mutter hat für mich einen Zahnarzttermin ausgemacht und sie wollte, dass ich direkt nach meinem Praktikum dort hin gehe.
Ich lasse das Mädchen vor mir in den Gang. Ob sie bemerkt hat, dass ich zum ersten Mal hier aussteige, weiß ich nicht. Der Bus kommt zum Stehen. Die Türen öffnen sich und wir treten ins Freie. Dann ist der unausweichbare Moment gekommen. Unsere Wege trennen sich. Sie biegt links ab, ich rechts.
Und um den Schein zu wahren, lasse ich mir nicht anmerken, dass ich soeben aus meiner kleinen Normalität ausgebrochen bin. Ich habe die Tradition umgeschrieben und in eine Möglichkeit verwandelt. Auch wenn sie mich nicht noch ein zweites Mal angesehen hat, hat es sich gelohnt mit ihr auszusteigen, auch wenn ich nun mehr Fußweg vor mir habe, als ich gehabt hätte, wäre ich erst eine Station später ausgestiegen.
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Das Tagebuch einer Fremden
Narrativa generaleRuna. Wenn Lean jemals Tagebuch geschrieben hätte, hätte er dieses Mädchen als faszinierend bezeichnet. Lean kennt nicht einmal ihren Namen und trotzdem füllt nur sie alleine seine Gedanken aus, sobald sie den Bus betritt. Runa ist das Mädchen...