Das Tagebuch einer Fremden

2.Kapitel

Heute sind wieder unheimlich viele Leute im Bus. An sich ist das nicht verwunderlich, schließlich haben um diese Uhrzeit viele Leute Feierabend. Ich sitze an meinem Handy und lese lustlos ein paar Zeitungsartikel. Ich hasse es, dass ich nach außen so wirke wie die meisten anderen Leute in meinem Alter. Ich bin keiner dieser typischen Handysuchtis. Und ich spiele auch nicht andauernd irgendwelche IQ-senkenden Spiele die keinen Sinn machen. Die Leute die darauf schließen, dass ich bin wie viele andere, liegen falsch. Ich erwecke höchstens nach außen den Schein.

Neben mir sitzt ein kleines Mädchen, dass ihren Schulranzen auf dem Schoß hat und mit ihrer Freundin redet, die eingequetscht zwischen anderen Fahrgästen im Gang steht. Der Bus hält an der Haltestelle, an der das Mädchen immer einsteigt. Zwei Frauen steigen ein und ein Mann, der genervt die Augen verdreht, als er sieht wie voll der Bus ist.

Sie steigt zuletzt ein und in ihrem Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Ich kann nicht einmal annähernd vermuten was sie jetzt vielleicht denkt.

Sie bleibt im Gang stehen und als sich ein paar Stationen später die Gelegenheit bietet, setzt sie sich auf einen Platz im vorderen Teil des Busses. Heute sitzt sie nicht auf ihrem üblichen Platz, im Vierer, zwei Reihen vor mir. Aber sie hätte realistisch gesehen auch gar keine Chance ihn zu erreichen. Vielleicht ist es auch gar keine Absicht, dass sie immer auf exakt diesem Platz sitzt. Naja, immer außer eben heute.

Als der Bus das nächste Mal hält, steigt nur ein einziger älterer Mann ein. Er hat graue Haare und viele Falten im Gesicht. Es dauert eine Weile, bis er das viele Kleingeld aus seinem Geldbeutel gekramt hat und es für eine Fahrkarte reicht. Seine Kleidung sieht schmuddelig und abgenutzt aus und er trägt eine Tasche voller leerer Plastikflaschen in der Hand. Er geht ein paar Schritte den Gang entlang, aber weit kommt er nicht, der Bus ist immer noch sehr voll.

Die Frau die vor dem Mann steht, dreht sich zu ihm um und als sie wieder den Kopf wendet sehe ich, dass sie die Nase angewiedert rümpft und ihrem Gegenüber einen bedeutsamen Blick zuwirft. Ein Junge, etwa in meinem Alter, der auf dem Sitzplatz neben der Stelle, an der der Mann im Gang steht, sitzt, rückt etwas von ihm ab.

Als der Bus in die Kurve fährt, verzieht der Mann gequält das Gesicht, er sieht angestrengt aus, das verrät seine gebückte Haltung. Aufeinmal sehe ich wie sich das Mädchen in Richtung des Mannes beugt und leise, aber laut genug, dass ich es höre, sagt: „Entschuldigung ?" Ein paar Fahrgäste wenden sich zu ihr um und sehen sie fragend an. Der alte Mann scheint nichts davon mitbekommen zu haben. Das ist das erste Mal, dass ich ihre Stimme höre, schießt es mir durch den Kopf. Irgendwie füllt es mich mit Erleichterung, dass ihre Stimme so angenehm und ruhig klingt.

„Könnten Sie ihn bitte mal anstupsen ?",fragt das Mädchen ausgerechnet die Frau, die vor dem Mann steht und vorher so angewiedert geschaut hat. Diese nickt, sieht jedoch nicht sehr begeistert aus. Aber sie stupst den Mann hinter sich in die Seite und nickt zu dem Mädchen, sobald er der Frau seine Aufmerksamkeit schenkt. Er sieht das Mädchen verwundert an.
„Sie können sich auf meinen Platz setzen, ich muss sowieso bald aussteigen.",sagt sie zu ihm und lächelt freundlich.

Wow...ich habe sie noch nie lächeln gesehen. Ihr Lächeln ist nicht so wunderschön, wie das von Carlin, aber es ist dafür gemacht, Herzen zu erobern, das sehe ich auf den ersten Blick. Es ist dafür gemacht Herzen zu erobern und etwas besonderes zu sein. Ein überraschter und zugleich unsicherer Ausdruck stielt sich auf das Gesicht des Mannes. „Wirklich?", fragt er mit leiser Stimme. „Ja klar, das ist kein Problem.", sagt das Mädchen, steht auf und macht den Platz für den sich ehrlich bedankenden Mann frei.

Nur ich weiß, dass sie gelogen hat, als sie sagte, dass sie sowieso bald aussteigen müsse.