Ich werfe einen Blick auf den Wecker auf meinem Schreibtisch und bemerke, dass ich wie erwartet deutlich später dran bin, als an den meisten Mittwochen wenn ich zur Bar gehe. Ich stopfe meine Stifte, die ich heute morgen vergessen hatte und wegen denen ich nicht auf direktem Weg zu Carlin gefahren bin, in meinen Rucksack und verlasse mein Zimmer. Ich gehe den Gang entlang und setze meinen Fuß bereits auf die erste Treppenstufe als mich Zweifel erfassen. Kurz zögere ich, verharre an Ort und Stelle.
Schließlich drehe ich mich wieder um und gehe rasch zu Taranehs Zimmertür. Ich klopfe zwei Mal. "Mmhhh?", tönt es von innen. Ich öffne die Tür und finde meine Schwester auf einer Gymnastikmatte am Boden liegend vor. Verschlafen und mit zitternden Augenlidern blickt sie zu mir auf. Mir fällt auf, dass sie ihre Sportklamotten trägt und ich muss grinsen. "Erfolgreiches Workout hinter dir?", frage ich neckend. Sie gähnt und lächelt verlegen. "Länger als 10 Minuten habe ich nicht durchgehalten. Ich war einfach zu müde "
"Du weißt, dass du auch ruhig Mal bisschen weniger für die Schule machen kannst oder? Lieber stresst du dich erst kurz vor deinem Abitur so hinein, als wenn du bis dahin ausgelaugt bist und jegliche Motivation verloren hast."
Meine kleine Schwester verdreht die Augen. "Jaja, schon kapiert. Erklär das dann Papa wenn ich ne 2-3 nach Hause bringe." In ihrer Stimme schwingt zweifellos Ironie mit. Ich seufze und erwidere ihren Blick bis sie wegschaut.
"Also, warum bist du hier?", fragt sie während sie an die Decke starrt. "Ich wollte bloß sagen, dass ich jetzt noch weggehe. Ich komm aber heute Abend wieder."
"Okay. Ich bleib hier, aber viel Spaß dir." , antwortet Taraneh. Ich nicke und verlasse ihr Zimmer. Unten im Flur ziehe ich mich warm an und schwinge mich schließlich auf mein Rad. Zum Glück habe ich Handschuhe mitgenommen, ansonsten könnte ich vermutlich den halben Abend nicht mehr zeichnen.
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Sobald mich die Wärme und der in der Luft liegende Duft nach Kaffee und Kakao empfängt, entspanne ich mich. Draußen ist es bereits dunkel, doch das sagt zu dieser Jahreszeit kaum etwas über die Uhrzeit aus. Im Winter habe ich immer das Gefühl nur die Hälfte des Tages zu haben und die Hälfte der Nacht durchzumachen. Die Realität besagt da meist anderes.
Ich laufe zum Tresen, Carlin ist gerade an einem Tisch im Eck und nimmt eine Bestellung auf. Noch hat sie mich nicht gesehen. Als ich mich auf einen der hohen Barhocker setze, fällt mein Blick direkt auf die Muffins, die auf der Arbeitsfläche stehen, dort wo die Kunden sie nicht direkt sehen wenn sie nicht dort sitzen wo ich sitze.
Schlagartig fällt mir wieder das Datum des Tages ein. Klar, in einem Monat ist Weihnachten. Natürlich hat Carlin Muffins dabei.
Den Blick durch den Raum schweifend geht Carlin zu mir an die Theke. Von den anderen Gästen hat sich niemand gemeldet und sie legt ihre Bestellungsliste neben mich und umarmt mich kurz. Dann lächelt sie mir zu: "Und, bisschen verplant heute?"
"Nee", antworte ich "ich hatte nur meine Bleistifte vergessen und bin deshalb nochmal nach Hause gegangen.""Oh", Carlin lacht belustigt. "Naja ich schätze das kann passieren." Sie nimmt ihren Bestellungsblock und geht damit auf die andere Seite des Tresen um ein Bier abzufüllen. Das sie bestens gelaunt ist, ist unverkennbar. Ich krame in der Zwischenzeit meine Zeichensachen hervor. Als ich alles vor mir drapiert habe, merke ich, dass Carlin von dem Tisch zurückkommt, den sie gerade bedient hat. "Hey, ich hab dich noch gar nicht gefragt, ob du einen Muffin willst!", ruft sie auf einmal und fasst sich dabei an die Stirn. "Möchtest du einen?"
Ich lächele über ihre Ernsthaftigkeit und die scheinbare Fatalität ihres völligen Versagens. "Gerne", antworte ich. Sie reicht mir einen mit Schokoladentoupé verzierten Himbeer Cupcake. Ich mustere ihn bewundernd. "Wow, die sehen diesmal echt wieder großartig aus! Warum machst du das eigentlich echt jeden Monat? Das macht doch bestimmt auch Arbeit..."
Carlin schmunzelt. "Naja wie ich dir letztens schon erzählt habe, bin ich einfach ein riesiger Fan von Weihnachten. Nur halte ich nichts davon, dass sich alle scheinheilig ausgerechnet an diesem Tag gegenseitig eine Freude bereiten. Deshalb habe ich einfach irgendwann beschlossen Weihnachten jeden Monat auf meine eigene Weise zu zelebrieren. Und ich hätte das zwar zu Beginn nicht gedacht, aber seither freue ich mich tatsächlich noch mehr auf den 24.Dezember."
Ich erwidere ihr Lächeln. Es ist süß wie ihre Augen freudig strahlen. Und auch heute werde ich wiedereinmal Carlin mit dem Muffin in der Hand zeichnen, den sie mir entgegen hält. Das Bild hat sich in meine zeichnerische Erinnerung gebrannt. Und während ich die Stimmung im Café genieße und alles außer den Zeichenstrichen aus meiner Aufmerksamkeit dränge, höre ich trotzdem noch wie Carlin im Vorbeigehen lacht: "Wenn du das immer fortführst und ich nicht demnächst sterbe, kannst du bald eine Ausstellung mit diesem Muffinbildern eröffnen."
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Das Tagebuch einer Fremden
General FictionRuna. Wenn Lean jemals Tagebuch geschrieben hätte, hätte er dieses Mädchen als faszinierend bezeichnet. Lean kennt nicht einmal ihren Namen und trotzdem füllt nur sie alleine seine Gedanken aus, sobald sie den Bus betritt. Runa ist das Mädchen...