19. Kapitel

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Ich möchte gerade die Seiten in Runas Tagebuch umblättern, als ich im Augenwinkel eine Bewegung hinter dem Tresen erhasche, die darauf schließen lässt, dass sich jemand zu Carlin gesellt hat. Die letzte halbe Stunde hatte ich, anstatt zu Zeichnen, im Tagebuch der mir einst Fremden gelesen und geschmökert, während Carlin mit den Gästen beschäftigt war. Meine Aufmerksamkeit war mal bei ihr und mal bei Runas Gedanken über den Wert von Gegenständen oder Kapitalismus gewesen. Ich hätte aufmerksamer sein können, nicht so abgelenkt. 

Doch als ich nun den Blick hebe, um zu sehen, wer auf Carlin zugegangen ist, entdecke ich eine schlanke, weibliche Figur und eine wilde braune, leicht gelockte Haarmähne. Das Mädchen umarmt Carlin, ich sehe sie nur von hinten. Plötzlich vernehme ich Carlins Stimme. "Hei Lean, darf ich dir jemanden vorstellen ? Ist fast ein Wunder, dass ihr euch bisher hier noch nicht begegnet seid...", sie kichert leise. 

Dann dreht sich das Mädchen um und mein Herz gerät ins Stocken. Instinktiv lasse ich das Tagebuch unter die Tresenoberfläche gleiten und schiebe es seitlich in meine Stofftasche. Ich blinzele und versuche, nicht in leichte Panik zu verfallen. In welchem Film bin ich hier gelandet ? 

Carlin kommt auf meine Seite des Tresens zu, ein Strahlen im Gesicht. Sie zieht das Mädchen an der Hand hinter sich her, in meine Richtung. "Lean, das ist meine Freundin Runa. Runa, das ist Lean, der Spinner, von dem ich dir erzählt habe. Der, der jeden Mittwoch hierher kommt und immer nur Johannisbeerschorle trinkt." Sie lacht und zwinkert mir zu. 

Ich möchte mich vergewissern, dass das Tagebuch wirklich in der Tasche ist. Ich möchte ihrem Blick ausweichen, wissen, ob sie gesehen hat, was ich soeben vom Tisch gewischt habe. Stattdessen starre ich sie an. Ihre Haare sind länger geworden, sie hat Wimperntusche aufgelegt und trägt dunkle Ohrringe. Aus Holz? Es fühlt sich alles so unglaublich unwirklich, so surreal an...

Runa runzelt die Augenbrauen und blickt mich an, als würde sie sich an mich erinnern. Der Moment dauert nur ganz kurz, dann ist er wieder vorbei. Habe ich mir das nur eingebildet ? Ein vages Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. "Hey Lean.", sagt sie. Ihre Stimme gefällt mir immer noch. Wie lange habe ich sie jetzt nicht mehr im Bus gesehen ? 

Ich nicke ihr zu. Zu mehr bin ich aktuell nicht im Stande. Ich beobachte, wie Runa zu Carlins Muffinbox geht, sich einen nimmt und hineinbeißt. Sie kaut kurz, dann wendet sie sich zu Carlin mit einem deutlich breiteren Lächeln, als dem, das sie kurz zuvor mir schenkte. Sie gibt Carlin einen flüchtigen Kuss auf die Backe und sagt, gerade laut genug, dass ich es hören kann: "Lin, die sind wiedermal göttlich. Love it!" Als ich beobachte, wie sich Carlins Wangen röten, eine seltene Angelegenheit, wie ich im Laufe meiner vielen Besuche hier herausfinden durfte, wird mir alles zu viel. 

"Ich ähm...", ich räuspere mich und verfluche meine Stimme, dafür, dass sie mich so lächerlich dastehen lässt. "Ich verschwind mal kurz um die Ecke.", ich wedele mit der Hand in die Richtung der Toiletten und stehe hastig auf, ohne den zwei noch einen weiteren Blick zu schenken. Während ich mich zwischen den Bar- und Cafétischen hindurchschlängele versuche ich, betont langsam zu gehen. Ist ja nichts passiert, wovor man fliehen müsste, oder ?!? Aufatmen kann ich erst, als sich meine Hand auf den klebrigen Außengriff der Herrentoilette legt. 


Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt