21. Kapitel

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Als ich mich zurück an den Tresen setze, bedient Carlin gerade einen Gast mit weißem Bart und Schiebermütze. Mir gegenüber, vor dem Regal mit Kaffeetassen und Gläsern, lehnt Runa und mustert mich. Die Tatsache, dass ich nicht in der Lage bin, ihren Gesichtsausdruck zu deuten, verunsichert mich. Ich streiche mit meinen Fingern über das abgenutzte Holz vor mir. Die Tasche mit ihrem Buch hier liegen zu lassen, anstatt sie mit zur Herrentoilette genommen zu haben, kommt mir jetzt plötzlich fahrlässig vor. 

"Muffin?" Ich hebe den Kopf und sehe, wie Runa in Richtung der Muffinbox nickt. Warum dreht sich heute Abend scheinbar alles ständig um diese süßen Leckereien ? Eigentlich ist mir in dem Moment der Appetit vergangen, in dem ich die Tragweite dieses Wiedersehens zu begreifen begann. Dennoch greife ich nach der Box. 

Plötzlich scheinen sich alle Indizien in meinem Kopf zu einem Faden zusammenzufügen. Der Tagebucheintrag. Die Bushaltestelle. Die vergessene Fahrkarte. Runa schrieb über ein Mädchen, dass ihr eine Muffinschachtel in die Hand drückte und vorgab sich die Schuhe zu binden. Ein Mädchen, das ihr gleichzeitig mit den Muffins eine alte Monatsfahrkarte in die Hand gedrückt hatte. Runa, der es dadurch gelang, in den Bus zu steigen. Der Entschluss, dem Mädchen, bevor es aussteigt, nochmals zu danken. Es wäre schon ein seltsamer Zufall wenn auch Runas und Carlins Zusammentreffen auf einen Bus zurückzuführen wäre. Dennoch, wäre es nicht komplett abwegig, oder? 

Ich würde gerne verbittert lachen. Weil ich wieder mal nicht alles weiß, keine Gewissheit habe, nur Vermutungen anstellen kann. Und weil mir diese Situation gerade immer und immer absurder vorkommt. Alles läuft auf diesen Bus zurück, alles läuft auf dieses Mädchen zu. Dabei ist es so banal. So unfassbar alltäglich und idiotisch. Ich werde ihr das Tagebuch heute Abend nicht zurückgeben. Ich werde auch mein Zeichenbuch nicht mehr herausholen. Falls sie mich tatsächlich noch nicht wiedererkannt haben sollte, werde ich dem ganzen nicht nachhelfen. Ich brauche erst einmal Zeit, Luft und Raum, um in Ruhe durchzuatmen. 

"Tut mir leid, dass ich dich vorhin unterbrechen musste. Man darf seine Stammkunden nicht verkraulen und so... du weißt bescheid." Carlin kommt zurück hinter die Bar. Trotz Augenverdrehen sieht sie glücklich aus, irgendwie entspannter in Runas Anwesenheit. 

Ein vages Schmunzeln überzieht Runas Gesicht. "Alles gut. Ist eh nicht so spannend." 
"Da hatte ich aber einen anderen Eindruck.", widerspricht ihr Carlin. "Hat sie wirklich angefangen als Haushälterin bei deinem Vermieter zu arbeiten ? So richtig mit Putzen, Kochen und so weiter?"

"Jaa. Und sie schiebt das als Ausrede vor, um uns ihren Treppenhaus-Dienst in die Schuhe zu schieben. Als würden wir nicht auch arbeiten. Nachdem ich mich 2 Wochen lang geweigert hatte, den zu übernehmen, weil ich es einfach nicht eingesehen habe und es auch immer noch nicht tue, hat mein Vermieter bei der letzten Eigentümerversammlung einfach 'nen neuen Putzplan ausgeteilt. Und jetzt rate mal, wer nicht eingeteilt wurde?"

"Deine Nachbarin.", stellt Carlin das Offensichtliche fest. Sie schüttelt ungläubig den Kopf und scheint zu überlegen, während sie mit einem Geschirrspülhandtuch eins der Sektgläser poliert. "Meinst du, sie möchte dich und dein Vater nur deshalb ausnutzen, weil ihr gerade erst neu eingezogen seid?"

Runa zuckt die mit den Schultern. Deutlich weniger aufgebracht als Carlin entgegnet sie: "Sonderlich intelligent wäre es ja nicht. Schließlich könnten wir genauso schnell wieder ausziehen, wie wir eingezogen sind. Zumindest in der Theorie. Ich weiß auch nicht so ganz was dahinter steckt. Aber nerven tut sie mich aufjedenfall..."

Mir kommt der Gedanke, dass der scheinbare Umzug von Runa und ihrem Vater, möglicherweise der Grund dafür sein könnte, dass sie nicht mehr mit der selben Buslinie fährt wie ich. Vor zwei Monaten hätte mich die Aussicht, dass sie tatsächlich und begründeterweise nicht mehr in meinen Bus einsteigen würde, noch frustrieren und enttäuschen können. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Womit ich mich allerdings nicht abgefunden habe, ist die Art und Weise, wie sie da an der Theke mir gegenüber lehnt und so beiläufig mit Carlin quatscht. 

"Ich möchte euch nicht unterbrechen, aber ich würde jetzt dann nach Hause gehen.", mische ich mich in das Gespräch ein und werfe  beschlossene Tatsachen in den Raum. Als würde sie erst jetzt wieder realisieren, dass ich auch noch hier sitze, dreht sich Carlin zu mir um. "So früh ?"
"Jep. Ich hab Zuhause noch was zu erledigen.", entgegne ich ausweichend und krame einen 5€-Schein aus meinem Geldbeutel. Carlin winkt ab. "Lass mal, hab heute schon mehr als genug Trinkgeld bekommen. 'Nen schönen Abend dir noch.", sie lächelt mir zu und ist kurz darauf schon wieder abgelenkt, weil sie von einem Kunden angesprochen wird. Mein Blick schweift hinüber zu Runa, die dort nach wie vor an Ort und Stelle verharrt, als wäre sie angeklebt worden oder dürfe sich nicht von der Stelle bewegen. Sie hebt nur stumm die Hand und erwidert meinen Blick. Ich nicke ihr zu, wende mich ab und schlängele mich zwischen den besetzten Tischen hindurch zu Tür. 

Draußen ist es, wie erwartet, bereits dunkel. Ich gehe zu den wackeligen, dünneisigen Fahrradständern, die leider nicht in den Boden einbetoniert sind, sondern vor der Hauswand stehen und theoretisch von jeder beliebigen Person bei einem Spaziergang mitgenommen werden könnten, vorausgesetzt es ist gerade kein Rad daran angeschlossen. Ich bücke mich, stelle die Tasche mit meinem Zeichenblock, den Bleistiften, meinem Geldbeutel und Runas Buch neben meinem Rennrad ab und mache mich an meinem Schloss zu schaffen. 

Als ich Runas Stimme höre, denke ich erst, sie sei mir nachgelaufen und drehe mich um. Da ist niemand. Dann entdecke ich ein gekipptes Fenster schräg über mir. Wenn mich nicht alles täuscht, führt es zur Getränkelager-Abstellkammer des Cafés. "Findest du es nicht komisch, dass er ausgerechnet heute, wie zufällig auch hier im Café sitzt?" Runa. Etwas klappert. "Nein, wieso? Er kommt jeden Mittwoch Abend. Hättest du auch mehr reguläre Gewohnheiten und wärst weniger spontan, wärt ihr euch vielleicht schon eher begegnet." Carlins Stimme. 

"Hmm... ich weiß nicht. Außerdem ist es schon genug des guten, jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit die Zähne zu putzen. Mir sind Menschen suspekt, die so festgefahrene Alltagsroutinen haben und sich scheinbar nicht davon lösen können." Runas Tonfall klingt skeptisch und ich verharre in der Bewegung. Als die eine Seite des offenen Schlosses zu Boden fällt und ein für meinen Geschmack viel zu lautes, rasselndes Geräusch von sich gibt, zucke ich zusammen. "Dass er so lange auf Toilette war, findest du auch nicht seltsam?", fragt Runa erneut nach.

Carlin lacht. Eine Mischung zwischen Irritation, Verwunderung und Spott, wenn mich nicht alles täuscht. "Sweetie, lass die Leute doch einfach mal so lang sie wollen auf Toilette gehen, da ist doch nichts dabei. Und mach dir keinen Kopf, Lean ist absolut in Ordnung,  vertrau mir." Ihre Stimme wird leise und Runas Entgegnung kann ich bereits nicht mehr verstehen, ich nehme nur noch ihre Stimme war. Die beiden scheinen zurück in den Gastraum gegangen zu sein. Ich fühle mich zurückgelassen, verwirrt und leer. 

Die Fahrradständer-Konstellation wackelt, als ich versuche mein Rad daraus zu befreien.Der Sattel kommt mir plötzlich viel zu hart vor. Ich schiebe mein Renner nicht an der Straße entlang und mein Herz fühlt sich alles andere als "zu voll zum fahren" an. Trotz der Dunkelheit versuche ich, mir meine Niedergeschlagenheit und Verwirrung nicht am Gesichtsausdruck anmerken zu lassen. Ich habe mir unsere Begegnung so anders vorgestellt. Skepsis und gar eine leichte Abneigung von Runas Seite, sind mir nie in den Sinn gekommen. 

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt