5.Kapitel

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2 Wochen später

Seit das Mädchen ihr Buch liegen gelassen hat, sind 2 Wochen vergangen. Ich habe jeden einzelnen Tag mitgezählt. Mich jeden Tag erneut der Illusion hingegeben, dass sie heute sicherlich kommen wird.Habe mir jeden einzelnen Tag eingestehen müssen, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich mich in ihr, sowie in mir getäuscht habe. Tag für Tag habe ich ihr Buch mit mir getragen, auch heute habe ich es bei mir und zum ersten Mal kann ich verstehen, wie schwer die Last gewesen sein muss, die Frodo auf seinem Weg nach Mordor mit sich trug.

Ich wünschte so sehr, ich hätte ihr das Buch zurückgeben können. Dass ich sie wieder schreiben sehen könnte. Ich weiß nicht woher sie kommt, ich kennen nicht die Straße, in der sie wohnt. Ich weiß nicht einmal wie sie heißt. Eventuell würde ich all das in dem Buch herausfinden können, aber es ist Privat, es geht mich nichts an, das sage ich mir schon seit dem ersten Tag, an dem sie nicht mehr im Bus saß.

Man sollte einem Künstler nie die Freiheit nehmen, darüber zu entscheiden, wer seine Werke zu sehen bekommt. Und ich bin mir sicher, dass sie eine Künstlerin ist, wenn auch auf ihre eigene Weise. Wer dem Sog unserer Gesellschaft widerstehen kann, hat sich diesen Titel verdient.

An meiner Haltestelle steige ich aus und gehe zu meinem Fahrrad. Heute ist Montag, mit einer unheimlichen Vorahnung mache ich mich auf zur Bar. Ich fürchte heute ist der Tag, an dem ich meine guten Vorsätze über das Recht eines Künstlers zum ersten Mal brechen werde. Denn die Last ihrer Worte, die noch ungelesen sind, wiegt zu schwer und die Hoffnung auf eine Erklärung für ihre Abwesenheit ist zu verführerisch. 

Wie jeden Mittwoch, kündigt die Türglocke mein Kommen an. Wie jeden Mittwoch lächelt mir Carlin entgegen und ich erwiedere ihr Lächeln. Nur dass heute nicht Mittwoch ist und dass nichts wie immer scheint.

„Was machst du heute schon hier ? Es ist Montag.", fragt Carlin. Sie klingt dabei aber nicht unhöflich, sondern lediglich überrascht.
Ich nicke nur. Ich bin mir bewusst, dass das keine zufriedenstellende Antwort für sie ist.
„Willst du mich wieder zeichnen ?",hakt sie nach.
„Nein Carlin, heute nicht.",sage ich und mache es mir auf dem schwarzen Barhocker gemütlich, soweit dies eben möglich ist.
„Oh, gut.", Carlin klingt etwas verunsichert.
„Ähm... kann ich dir trotzdem ein Johannisbeerschorle bringen?"
„Ja gerne.",ich schenke ihr ein dankbares Lächeln. Sie will sich gerade abwenden, da halte ich sie nocheinmal auf. „Weißt du Carlin, es liegt nicht an dir. Ich komme am Mittwoch und dann zeichne ich dich. Aber heute brauche ich Zeit für mich, um zu lesen.",sie hat eine Erklärung meinerseits verdient.
„Klar, kein Problem.",antwortet sie und alle Unsicherheit ist aus ihrer Stimme gewichen. 

Ich nehme meinen Rucksack auf den Schoß und packe das Buch des Mädchens aus. Ich habe es bisher vermieden zu lesen, was in bunten Schriftzügen auf dem Einband steht, aber heute werde ich es tun. Vielleicht ist es jedoch angemessen immer nur einen zu lesen, für jedes Mal, wenn ich erneut darin lese. So werde ich immer einen Einstieg haben, bevor ich mich in den Worten verliere. Ich weiß, dass ich dies tun werde. Mich beschleicht nämlich die leise Vorahnung, dass es unmöglich ist, dies nicht zu tun, wenn man solange auf einen Moment gewartet hat, wie ich auf den, das Geheimnis dieses Buches zu lüften.

Nun ist der Moment gekommen, an dem ich der Versuchung nachgeben werde.

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt