Gestern, auf dem Weg zum Arzt, musste ich ständig an sie denken. Ich hätte das Mädchen fragen sollen, ob sie Lust hat mal mit mir in die Bar zu gehen. Ich wüsste so gerne wie sie heißt, wie alt sie ist, was sie in ihr Buch schreibt und ob sie mich innerhalb des letzten halben Jahres bewusst wahrgenommen hat, oder ob ich einfach einer von vielen war, die zur selben Uhrzeit mit dem selben Bus fahren.
Ich würde sie gerne etwas näher kennenlernen, ich wüsste gerne, was sich hinter der Fasade des Mädchens versteckt, das so außergewöhnlich und natürlich scheint.
Heute ist es so weit, heute werden uns keine zwei Reihen voneinander trennen. Ich habe mich gestern nicht getraut, sie anzusprechen und ich weiß nur zu gut, dass ich es mich heute ebenfalls nicht trauen werde, doch ich bin bereit einen Schritt über den Abgrund zu treten, von dem ich nicht einmal weiß, ob er in die Tiefe führt.
Mein Herz klopft wie jeden Tag, als ich den Bus betrete, den Gang entlang gehe und mich dann, anders als jemals zuvor, in den Vierer setze, in dem sonst das Mädchen sitzt.
Ich habe Glück, heute sind weniger Menschen im Bus, als gestern. Kaum einer steht im Gang.
Der Bus hält an der Haltestelle des Mädchens, dann steigt sie ein.Sie hat den Kopf gesenkt und wirkt auf mich, als wäre sie in einer anderen Welt. Ihre ganze Haltung, unterscheidet sich von dem, was ich von ihr gewohnt bin. Sie scheint in sich zusammengesunken, abhanden und verloren. Dabei ist heute der 22.Oktober, ein Tag, der dafür gemacht ist, glücklich zu sein. Lautlos lässt sie sich auf den Platz mir gegenüber sinken. Anders als erhofft, schaut sie nicht zu mir auf. Anders als erhofft, erweckt sie nicht den Anschein mich wahrzunehmen.
Aber das ist okay, jeder hat ab und an Tage, an denen man etwas neben sich steht.
Auch sie darf diese Tage haben. Ich verdränge die Enttäuschung die sich in mir breit macht und beobachte aus dem Augenwinkel, wie das Mädchen ihr Buch aus ihrem Rucksack holt. Sie zückt den Bleistift und beginnt zus schreiben. Wenigstens das ist wie immer. Vielleicht habe ich mich auch nur getäuscht, als sie in den Bus kam. Ich bin ein Mensch und Fehler zu machen ist menschlich.Die Busfahrt vergeht ereignislos. Ich sitzte wie auf Kohlen, wartend und hoffend, während die Sekunden verstreichen. Und sie schreibt. Wie so oft, wenn wir gemeinsam Bus fahren. Die Zeit mit ihr, ging viel zu schnell vorbei, schießt es mir duch den Kopf, als ich das blaue Rathaus sehe. Ich bereite mich innerlich darauf vor, dass sie gleich den Bus verlassen wird und ich sie nicht gefragt haben werde, ob sie mit mir in die Bar gehen will, in der Carlin arbeitet. Wir könnten reden, aber es würde mir auch nichts ausmachen es nicht zu tun. Vermutlich ist gemeinsam Schweigen mit diesem Mädchen interessanter als ein Gespräch mit manchen Leuten.
Doch sie packt ihr Buch nicht zusammen. Soll ich etwas sagen ? Nein, das kommt seltsam, ich dürfte nicht wissen, dass sie immer am blauen Rathaus zusammenpackt, wenn ich ein ganz normaler Fahrgast wäre. Ich will nicht aus der Reihe stechen. Ich bin still. Ich lasse die Möglichkeit, mit ihr zu reden, verstreichen.
Der Bus beginnt zu bremsen und wird langsamer. Aufeimal blickt das Mädchen auf. Ich meine etwas wie Unglauben und Verwirrung auf ihrem Gesicht zu erkennen, als sie aus dem Fenster sieht. Hektisch schaut sie auch auf der anderen Seite aus dem Fenster. Sie legt das Buch neben sich auf den Sitz und kramt in ihrem Rucksack. Suchend streckt sie ihren Arm in sein Inneres und wühlt darin herum. Sie scheint etwas durch den Wind zu sein, heute. Dann hält der Bus und mit einem letzten Blick aus dem Fenster steht sie auf und tritt durch die Türe.
Der Bus fährt weiter. Es braucht etwa 10 Sekunden, dann realisiere ich die Tatsache und ein leichter Schock macht sich in mir breit. Sie hat ihr Buch vergessen!
Ich springe auf, doch der Bus ist bereits zu viele Meter weiter gefahren. Ich sehe wie ihre Bushaltestelle hinter der Hausecke verschwindet und sinke irritiert zurück auf meinen Platz.
Dreimal hält der Bus. Solange dauert es, bis ich meinen inneren Kampf zu Ende gefochten habe. Ich werde das Buch mitnehmen und es ihr morgen geben. Mir vorzustellen, wie sie tagtäglich in diesem Bus sitzen wird, ohne in diesem Buch schreiben zu können, schmerzt tief in meinem Herzen.
Genauso unerträglich ist der Gedanke, dass jemand ihr Geschriebenes lesen könnte, der sie überhaupt nicht kennt.
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Das Tagebuch einer Fremden
Ficción GeneralRuna. Wenn Lean jemals Tagebuch geschrieben hätte, hätte er dieses Mädchen als faszinierend bezeichnet. Lean kennt nicht einmal ihren Namen und trotzdem füllt nur sie alleine seine Gedanken aus, sobald sie den Bus betritt. Runa ist das Mädchen...