Gedankenverloren starre ich an meine Zimmerdecke. Jedes Mal wenn ich mich bewege knarzt mein Bett und jedes Mal erinnert es mich daran, dass ich nicht mehr mit Carlin in der Bar sitze und rede, sondern dass ich Zuhause bin und das alles sich nur in meinen Gedanken wiederholt.
Ich bin nach wie vor noch etwas überrascht von Carlin. Sie war schon immer das nette, irgendwie süße Mädchen, aus der Bar in der Stadt. Sie war immer die Person, die meine Gewohnheit, Johannisbeerschorle zu trinken, von Anfang an durchschaut hatte. Vermutlich ist das nichts worauf sie sonderlich stolz sein würde. Vermutlich sollten mir andere Dinge zuerst einfallen, wenn ich an Carlin denke.
Aber ich weiß nicht... vielleicht ist es einfach gut so wie es ist. Mir ist bewusst, dass es bestimmt Typen gibt, die Carlin schon längst nach einem Date gefragt hätten, wenn sie an meiner Stelle wären. Sie ist nett, intelligent, bestimmt auch attraktiv und... ach ich hab das schon viel zu oft durchgekaut. Aber trotz allem ist sie Carlin. Das Mädchen, das ihren Platz auf meinem Papier hat. Das Mädchen, das dazu gemacht ist von Bleistiftmienen eingefangen zu werden. Klar ist sie auch noch mehr. Aber eben nicht für mich.
Trotzdem bin ich beeindruckt von ihrer Weitsichtigkeit, ihren Überlegungen und ja, auch von ihren Gedanken und der Art wie sie sie mit mir geteilt hat. Manchmal kommt es mir so vor, als müsste man nur ein Fragezeichen setzen, um eine andere Seite eines Menschen kennenzulernen. Oder ein Ausrufezeichen, so wie es Runa getan hat.
Plötzlich klopft es an meiner Tür. "Jaa?", rufe ich durch den Raum. Mein erster Gedanke sorgt bei mir für ein Stirnrunzeln. Hoffentlich ist das nicht Dad. Doch als die Tür aufgeht, steckt bloß Taraneh ihren Kopf durch den Spalt.
"Du Lean? Wir haben ein Problem." Sie schaut mich mit großen Augen an und wirkt als sei sie kurz vor einem Moment der absoluten Verzweiflung. "Wir haben ein Problem?", hake ich irritiert nach. Mit einem Nicken deute ich ihr, herein zu kommen.
Mit hängenden Schultern tritt sie durch die Türe und schließt sie anschließend hinter sich. "Alsoo....", sie holt tief Luft und sorgt somit bei mir für noch mehr Verwirrung. Schlagartig schießt mir durch den Kopf, ob sie vielleicht nicht weiß, dass sie mit mir über alles reden kann. Dass ich immer für sie da sein kann. Ja, dass ich es sogar will und ständig nur darauf warte, dass sie es zulässt. Mir fehlt meine Schwester, obwohl wir im selben Haus wohnen und unsere Türen auf den selben Flur führen.
Nach einem letzten Blick auf den Boden, schaut sie mir endlich in die Augen und beginnt zu erzählen. "Ich hab Mama gesagt, dass wir gemeinsam in die Stadtbibliothek gehen, weil ja grad unser Internet kaputt ist und... das tut mir übrigens furchtbar Leid! Ich hoffe du hast es nicht gebraucht, ich wollte doch nur eine Ausrede und irgendwie hat das so gut gepasst. Eigentlich wollte ich das Kabel auch gleich wieder reinstecken, aber ich hab einfach nicht mehr gewusst welches es war und... Oh Mann, ich hoffe das kann man wieder richten. Ich bin einfach das absolute Technik-Monster, das sagt Milo auch immer. Naja, wie du ja weißt, nicht im positiven Sinn, mir liegt das einfach alles nicht, deshalb... Bist du mir eigentlich sauer deswegen?"
Überfordert starre ich meine Schwester an. "Taraneh, was ist los? Du hast das Kabel aus dem WLAN-Router gezogen, so weit konnte ich dir folgen. Aber warum hast du das getan?" Was sie mir eben gesagt hat macht für mich einfach keinen Sinn. Es hat mir nur wieder in Erinnerung gerufen, wie viel und wie schnell meine kleine Schwester reden kann.
"Hättest du das Internet denn gebraucht? Es tut mir wirklich mega leid!", ihr Blick trieft nur so vor Reue. Reue, deren Ursache ich überhaupt nicht nachvollziehen kann.
"Nein ich habe das Internet nicht gebraucht und das mit dem Kabel ist auch überhaupt kein Problem. Ich schau einfach später mal danach, die Sache hab ich in weniger als einer Minute wieder geregelt. Aber jetzt sag doch mal, warum hast du nochmal das Kabel rausgezogen?"
"Naja, also eigentlich wollte ich mich bloß mit Milo treffen,aber von der Idee war Mama ja neulich ziemlich gar nicht begeistert. Deshalb hab ich eine Ausrede gebraucht und irgendwie ist mir in dem Moment nur die Bibliotheksgeschichte eingefallen. Denn wenn ich was für die Schule machen will, kann sie wohl kaum was dagegen sagen. Warum ich gesagt habe, dass du mitkommst weiß ich selbst nicht mehr. Aber klar war, dass ich das Internet manipulieren musste, sonst hätte ich ja googlen können und dann hätte die Stadtbibliotheksidee nicht mehr funktioniert. Ich wollte einfach nur, dass sie keinen Verdacht schöpft, während ich bei Milo bin, aber blöderweise hängst du jetzt in der ganzen Geschichte drin. Nur weil ich es nicht rechtzeitig kapiert habe und mir spontan nichts besseres eingefallen ist."
Im ersten Moment bin ich einfach nur geschockt, dass es jetzt soweit ist, dass meine Schwester sich Ausreden einfallen lassen muss, um sich mit ihrem besten Freund zu treffen. Dann werde ich wütend. Nicht auf Taraneh, sondern auf unsere Mutter.
"Hat sie dir die Story abgekauft?", erkundige ich mich.
"Ja hat sie.", bestätigt Taraneh. Es wundert mich nicht, dass meine Mutter die ganze Sache nicht gepeilt hat. Vermutlich hätte jedes beliebige andere Elternpaar aufgehorcht als es um die Sache mit dem Internet ging. Oder darum, dass die kleine Tochter mit ihrem großen Bruder in die Bibliothek geht, um etwas für die Schule zu machen. Jedes normale Elternpaar, hätte gewusst, dass ihre Kinder seit einer Weile nichts mehr zu zweit und aus eigenem Ansporn unternommen haben. Warum auch immer. Aber nicht so meine Mutter...
"Okay, soll ich dann einfach in die Stadt gehen, während du bei Milo bist und wir treffen uns danach und fahren gemeinsam nach Hause?"
Schlagartig sieht Taraneh unglaublich erleichtert aus und strahlt übers ganze Gesicht. Allerdings sehe ich ihr an, dass sie vergeblich versucht sich ihre Freude und das Lächeln nicht anmerken zu lassen. Zu meinem Glück gelingt es ihr nicht, denn das Strahlen in ihren Augen tut unheimlich gut.
"Das wäre genial!", antwortet sie. Dann durchquert sie das Zimmer. Ich stehe von meinem Bett auf und schon im nächsten Moment schließt sie ihre Arme um mich. Ich höre es nicht, dass sie sich bedankt, aber ich spüre, wie ihr Mund ein Danke in meine Schulter murmelt.
Ich löse mich aus ihrer Umarmung und erwidere zwinkernd ihr Lächeln . "Okay, dann auf in die Startlöcher, in drei Minuten treffen wir uns an der Haustür."
...
Ohne ein wirkliches Ziel zu haben schlage ich die Zeit in der Stadt tot. Als ich mich auf den Weg zurück zur Bushaltestelle mache, bin ich fast schon ein bisschen enttäuscht. Denn trotz der geringen Wahrscheinlichkeit hatte ich gehofft, dass ich auf Anton treffe, den Mann mit den Hunden. Oder vielleicht Runa, es hätte ja sein können, dass doch so etwas wie Schicksal existiert und dass wir uns in der Stadt über den Weg laufen. Aber ich werde mich wohl oder übel wieder mit ihrem Tagebuch zufrieden geben müssen.
DU LIEST GERADE
Das Tagebuch einer Fremden
General FictionRuna. Wenn Lean jemals Tagebuch geschrieben hätte, hätte er dieses Mädchen als faszinierend bezeichnet. Lean kennt nicht einmal ihren Namen und trotzdem füllt nur sie alleine seine Gedanken aus, sobald sie den Bus betritt. Runa ist das Mädchen...