1.Kapitel

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Die Türen des Busses öffnen sich und sie steigt ein. Wie jedes Mal habe ich das Gefühl, dass mir ein kleiner Stein vom Herzen fällt. Ich kenn sie nicht und doch fürchte ich mich jeden Tag aufs neue davor, dass sie nicht einsteigen wird. Doch sie tut es, sie tut es schon seit langem und ich bin stets erleichtert darüber.

Sie zeigt dem Busfahrer ihre Karte, er winkt sie durch und sie geht den Gang entlang. Sie bemerkt mich nicht. Die einzige Person, der sie einen kleinen Moment ihrer Aufmerksamkeit schenkt, ist eine afrikanische Frau, die auf dem Rollstuhlplatz sitzt und ihr Baby stillt. Das Mädchen geht an ihr vorbei und setzt sich in den Vierer zwei Reihen vor mir. Sie sitzt immer in diesem Vierer, mir gegenüber und doch kommt es selten vor, dass sie mich ansieht.

Sie ist anders als so viele andere Mädchen. Die meisten die den Bus betreten, leisten sich ein kleines Blickduell mit den unterschiedlichsten Typen, je nachdem wer eben in dem Bus sitzt. Auch ich war schon oft einer dieser Jungen, bei denen die anderen Mädchen es getan haben. Doch ich habe den Eindruck dass ihr so etwas nicht ferner liegen könnte.

Sie hat mal wieder eines dieser Bandt-shirts an, die sie so oft trägt. Ihre dunkle Jeans ist zerrissen, allerdings nicht auf die Weise, wie sie viele Mädchen tragen und wie man sie an jeder Straßenecke kaufen kann. Ihre Jeans sieht aus als wäre sie mehrfach in ihr gestürzt, sie ist auf natürliche Art zerrissen und nicht maschinell. Das Mädchen kramt in dem abgewetzten Rucksack mit den „FCK NZS"- und „LOVE FOR EVERYONE"-Buttons und holt einen Haargummi hervor. Sie bindet sich ihre langen braunen Haare zu einem chaotischen Dutt zusammen und ihre Miene macht deutlich, dass es ihr scheißegal ist wie er aussieht. Würde ich sie besser kennen und würde ich jetzt in ihrem Vierer neben ihr sitzen, dann würde ich ihr sagen, dass er ihr steht und unglaublich cool aussieht. Aber wir sind nicht befreundet und sie weiß vermutlich nicht einmal von meiner Existenz.

Anstatt, wie die meisten der anderen Fahrgäste, ihr Handy herauszuholen oder mit monotonem Gesichtsausdruck aus dem Fenster zu starren, holt sie ein Buch und einen Stift aus ihrem Rucksack. Der Einband des Buches ist mit Zeitungspapier beklebt und mit mehreren bunten, handgeschriebenen Zeilen verziert.

Sie schlägt es auf und beginnt zu schreiben. Das macht sie oft. Nicht immer, aber doch ziemlich häufig. Ich habe mich schon oft gefragt, was ein Mädchen wie sie wohl in dieses Buch schreibt. Anfangs habe ich mich der Illusion hingegben, dass sie vielleicht Zeichnungen darin sammelt. Dann hätte ich mit viel Glück den Mut gefasst, sie anzusprechen. Es wäre auch berechtigt rübergekommen, schließlich hätte ich ihr meine eigegnen Zeichnungen zeigen können und ich bin mir sicher, dass die Busfahrt interessanter gewesen wäre als sonst. Und wer weiß, vielleicht hätten wir uns dann ja regelmäßig unterhalten.
Aber inzwischen kann ich es nicht mehr leugnen, sie schreibt. Die Bewegungen einer zeichnenden Hand kenne ich aus eigener Erfahrung in und auswendig.

Nach einer kleinen Weile, blickt sie aus dem Fenster. Ich weiß warum sie das tut, schließlich fahre ich regelmäßig mit diesem Bus und ich kenne die Haltestelle, an der sie aussteigt. Wir fahren an dem blauen Rathaus vorbei und sie beginnt ihre Sachen zusammenzupacken. Dann steht sie auf. Immer wenn wir an dem blauen Rathaus vorbeifahren, richtet sie sich. Andere Leute stellen sich den Wecker um ihren Ausstieg nicht zu verpassen, oder sehen einfach auf die Uhr oder die Anzeige. Dieses Mädchen achtet auf ihre Umgebung und lässt sich von ihr sagen, wann es Zeit ist zu gehen.

Die Türen öffnen sich und sie steigt aus, vier Stationen bevor auch ich den Bus verlasse. Die Zeit im Bus ohne sie, kommt mir immer länger vor, als sie es eigentlich ist. Als auch ich, zusammen mit zwei anderen Fahrgästen aussteige, dämmert es bereits. Trotzdem ist es für Mitte Oktober noch ziemlich warm. Vor meinem Auge taucht das Bild des Mädchens auf, wie sie im T-shirt den Bus betritt. Es wird eine Zeit kommen, in der auch sie anfangen muss Jacken zu tragen.

Ich gehe hinter das kleine Bushäuschen und schließe mein altes Rennrad auf. Ich steige auf und trete sanft in die Pedale. Ich genieße den Wind in meinem Gesicht und ignoriere die Blicke der Leute, die durch die Gassen meiner Kleinstadt gehen, und mir schräge Blicke zuwerfen, weil mein Fahrrad beim Fahren so quietscht. Das ist mir egal, ich liebe dieses alte Rad, das schon viele auf den Schrottplatz gebracht hätten, wenn sie an meiner Stelle wären. Kaum ein Rennrad hat, meines Ansehens nach, so viel Stil wie dieses.

Nach etwa fünf Minuten komme ich an der Bar an. Ich schließe mein Rad ab und trete ins Innere. Es ist eine der wenigen Bars dieser Stadt, in der Rauchen verboten ist und ich genieße das sehr. Carlin hebt den Blick, das Klingeln der Tür hat mich angekündigt, als ich sie geöffnet habe. Sie lächelt mir freudig entgegen und ich durchquere das Zimmer um mich vor sie auf einen der hohen Barhocker zu setzen.

„Ich bringe dir dein Johannisbeerschorle.",sagt sie und lächelt erneut. Ihr Lächeln ist wunderschön und ich kenne es in und auswendig, so oft habe ich es schon auf Papier gebracht.

„Danke Carlin.", erwidere ich ebenfalls lächelnd. Dann hole ich meinen Block und die Bleistifte aus meinem Rucksack, so wie es das Mädchen heute im Bus mit ihrem Buch tat. Carlin stellt das Schorle vor mir ab, wie immer, denn seit ich das erste Mal in dieser Bar war, habe ich nie etwas anderes getrunken. Dann lehnt sie sich an die Theke und bedient immer mal wieder ein paar Kunden, während ich sie zeichne, wie ich es jeden Mittwoch Abend tue. Gewohnheit ist das einzige bisschen Normalität das uns dieses Leben geben kann.

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt