26.04.2018

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"Driving in your car. Oh, please don't drop me home because it's not my home, it's their home - And I'm welcome no more." -The Smiths.

In Anbetracht der Tatsache, dass ich so lange nichts mehr von Anton, Rosine, Tango und Freiheit geschrieben habe, mag es recht überraschend wirken zu erwähnen, dass ich ihnen heute tatsächlich ein kleines Geigenvorspiel gegeben habe. Während  der letzten Wochen war ich öfter mal in der Stadt und habe immer beiläufig nach Anton Ausschau gehalten. Manchmal war er da, manchmal habe ich ihn nicht getroffen. Ich bin mir immerzu der Blicke bewusst, die wir auf uns ziehen. Ein junges Mädchen, dass mit einem verwahrlost aussehenden Straßenbettler abhängt, der etwa 40 Jahre älter ist.  Aber es ist in Ordnung. That's how it works. Und ich bin offen für neue Situationen. Für Ablenkung von Corvin. Auch wenn ich irgendwie mit ihm abgeschlossen habe, taucht er dennoch ab und an in meinen Gedanken auf. Es verlangt harte und kontinuierliche Arbeit um eine Person, die mal einen Platz in einem Herzen hatte, wieder in den Hintergrund zu versetzen.

Zurück zum Geigenspiel. Wie es dazu gekommen ist? Irgendwann in den letzten Tagen hatte ich erwähnt, dass es eine meiner Leidenschaften ist, woraufhin Anton mich so lange beackerte bis ich mich damit einverstanden erklärt habe meine Geige mal mitzubringen. Die Situation heute war eine Mischung zwischen surrealen Erlebnis und cooler aber leicht unangenehmer Erfahrung. Immerhin war er nicht der einzige Zuhörer, da diverse Passanten durchgelaufen sind und ich es eigentlich nicht mag, vor Leuten zu spielen, die ich nicht kenne.

Jedenfalls hat sich Anton sehr darüber gefreut und es macht mich glücklich Menschen zu einem aufrichtigen Lächeln zu bringen. Im Anschluss daran hat er mich wieder in ein Gespräch verwickelt. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass er das oft tut, um den Zeitpunkt an dem ich wieder aufbreche noch etwas hinauszuzögern.

Dabei ist mir während der heutigen Unterhaltung aufgefallen, dass er mir im Grunde alles erzählen könnte und ich nie eine Gewähr dafür hätte, dass er auch wirklich von etwas wahrem spricht. Manche seiner Geschichten klingen echt abgefahren und ich weiß nie ob er sie erfindet um mich beispielsweise zu beeindrucken oder ob das tatsächlich Teil des Straßenlebens ist. Beides wäre vorstellbar. Und ich schwanke zumeist zwischen aufkommender Skepsis, Sympathie und der Frage inwieweit es tatsächlich relevant ist, ob seine Geschichten erfunden oder realitätsgetreu sind.

Mein Instinkt sagt mir, dass eine Lüge eine Lüge bleibt, egal unter welchen Umstäden sie an ihr Publikum gebracht wird. Egal, mit welcher Situation man sie rechtfertigt. Aufgrund gesellschaftlicher Wertvorstellungen lernt man hier schon früh, dass Lügen moralisch verwerflich sind. Doch wenn ich mir Anton ansehe, beobachte, wie sehr er die Zeit mit mir zu genießen scheint, wie entspannt er in der Gegenwart seiner Hunde agiert - trotz der offensichtlichen Tatsache, dass er ein sehr hartes Leben führt, zwischen dem Rand der Gesellschaft und dem Abgrund der Straße, dann ist es mir fast schon egal, was er mir erzählt.

Ich bin nicht hier um beeindruckt zu werden, kann auch nicht einschätzen ob das eine seiner Intentionen ist. Ich bin hier um ab und an jemandem zuzuhören, der am Tag mindestens doppelt so oft von seinen Mitbürgern ignoriert oder schief angeschaut wird als gewöhnliche Passanten. 

Wer auf der Strasse lebt, mag sich an Lügen gewöhnen, die zwar nach wie vor moralisch verwerflich bleiben, die aber dennoch begründbar sind. Auch wenn die Rechtfertigung fehlen mag und solche Gespräche zu Verurteilungen einladen mögen - von nichts, kommt nichts. Und wer bin ich, mir das Recht herauszunehmen, über einen Mann, über eine Lebensgeschichte zu urteilen? 

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt