12.Kapitel

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Ich drehe den Schlüssel. Mit einem leisen Klicken rastet das Fahrradschloss ein. Daraufhin lasse ich den Schlüssel in meiner Umhängetasche im vorderen Reißverschlussfach verschwinden. Dann wende ich mich der Bar zu. Ich gehe die wenigen Stufen hoch und drücke die dunkle Holztür auf. 

Es ist Mittwoch.  Alles ist so wie es sein soll. Alles ist so wie es bisher, bis auf wenige Ausnahmen, immer war.

Ich gehe zum Tresen und beachte die Leute an den anderen Tischen kaum. Carlin steht mit dem Rücken zu  mir vor einem Wandregal. Sie hält ein Handtuch in den Händen. Mehr kann ich nicht erkennen, doch vermutlich poliert sie irgendwelche Gläser. Ich räuspere mich. "Hi."

Carlin dreht sich um und eine Strähne löst sich aus ihren Zöpfen. Ein Ausdruck der Überraschung huscht über ihr Gesicht. "Hey Lean." Sie schenkt mir eins ihrer wunderschönen Lächeln.

Irgendwo in meinem Hinterkopf erscheint die Erinnerung an die eine Busfahrt und Runa, die lächelte. Das war kein Vergleich. Das hier, Carlins Lächeln, ist kein Vergleich. Es ist schön, ohne Frage, aber nichts zu Runas. Ich kann ein Stirnrunzeln nicht vermeiden. Es gibt keinen Tag, vermutlich nicht einmal eine Stunde, in der ich nicht an sie denke. Normalerweise ist das egal. Aber gerade stört es mich. Ich will Carlin zeichnen und nicht ununterbrochen an Runa denken. Das habe ich immer. Carlin sehe ich nur Mittwochs.

Carlin stellt das Glas wieder ins Regal und kommt zu mir. Sie stützt ihre Ellbogen auf dem Tresen ab und blickt mich nach wie vor lächelnd an. "Cool, dass du heute hergekommen bist. Ehrlich gesagt hatte ich so meine Zweifel. Letzte Woche warst du ja nur Montags da und bist seither nicht mehr vorbeigekommen. Ich hatte schon Angst, dass gerade du deine Gewohnheit bricht."

Ihr Tonfall ist neckend. Ich lasse mich auf sie ein und erwidere ihr Grinsen, wenn auch nicht ganz so stürmisch. "Keine Sorge, mein Zeichenblock hätte das wohl kaum ausgehalten. Da sind noch etliche leere Seiten drin, die auf dich warten."

Die nächste Stunde bin ich damit beschäftigt meine letzte Zeichnung von Carlin zu überarbeiten. An manchen Stellen stört mich das Fehlen von Detail. Ich nehme kaum etwas um mich herum wahr. Ab und an nippe ich an dem Johannisbeer-Schorle, das Carlin mir gebracht hat.

Die Miene des Bleistifts wird immer kleiner, so lange bis ich gezwungen bin zum Mülleimer zu gehen, um sie neu anzuspitzen. Als ich zurück komme fällt mir auf, dass ich fast der letzte Gast bin.

An der Gaderobe hilft ein Mann einer Frau, mit auffallend langen Haaren, in die Jacke. Die beiden lächeln sich verliebt an. Er hält ihr die Tür auf. Ein Windstoß kommt in die Bar, dann knallt die Tür zu und ich bin der Letzte.

Als ich zurück bei Carlin bin, überkommen mich Zweifel. "Soll ich gehen?", frage ich sie. Ich weiß selbst nicht was mir lieber wäre. Gerade war ich so vertieft in meine Zeichnung, dass es sich falsch anfühlen würde sie abzubrechen. Andererseits bin ich mir nichts sicher ob es so eine geniale Idee ist noch bei Carlin zu bleiben. Normalerweise sind da immer noch andere.

Carlin schenkt mir einen undeutbaren Blick. "Eigentlich machen wir jetzt dann zu, aber ich hab sowieso noch etwas zu tun. Ob ich das alleine erledige, oder in deiner Anwesenheit macht eigentlich keinen Unterschied. Wenn du willst kannst du gerne noch bleiben."
"Okay. Dann bleibe ich."

Ich setze mich wieder auf den Stehhocker und nehme den Bleistift in die Hand. Das kleine Stück Holz lädt geradezu dazu ein, es zwischen den Fingern zu drehen. Eine Weile versuche ich mich an der Zeichnung, die ich neu angefangen habe. Carlin im Seitprofil, wie sie ihre Hand ausstreckt, um an ein Glas in einem Regal zu kommen.

Doch Runas geschwungene Handschrift, die ununterbrochen von meinen Erinnerungen gespiegelt wird, lässt mich nicht los. Carlin geht durch den Raum und wischt die Tische ab. Das Geräusch der Stühle, die über den Boden kratzen während sie sie zurecht schiebt, wirkt auf mich wie ein Plädoyer.

Ein Plädoyer an meine Anwesenheit, das dafür plädiert in der Realität, der Gegenwart zu bleiben. Trotzdem drehen sich meine Gedanken unaufhörlich, während die Anzahl der gesetzten Beistiftsstriche ständig steigt.

"Carlin?" Ich hebe den Blick. Inzwischen ist sie wieder am Tresen mir gegenüber und macht irgendetwas an der Kaffeemaschine. "Jaa?" Dieser fragende, freundliche, neutrale Blick wurde schon so oft von mir auf Papier eingefangen.  Ich lege den Stift ab.

"Wie fühlt sich Freiheit für dich an?" Erstaunt lässt sie ihre Hände sinken. Einen Moment zögert sie, dann kommt sie zu mir und lässt sich auf dem Barhocker neben mir nieder. 

"Freiheit?" Ihr Blick schweift durch den Raum. Sie scheint etwas überrumpelt zu sein. Trotzdem sehe ich ihr an, dass sie ernsthaft überlegt. Sie will mir antworten. Nicht bloß irgendwie, sondern wirklich. Abseits der Gespräche, die man zwischen Tür und Angel führt.

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt