20. Kapitel

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Herrentoiletten sind an und für sich kein atemberaubend schöner Ort. Doch als ich mich in die leicht miefige Kabine dränge, den Klodeckel runterklappe, mich drauf setze und an die graue Toilettenwand starre, fühlt es sich um Welten besser an, als noch wenige Sekunden zuvor auf dem Barhocker vor Carlin und Runa. Runa. Jetzt, wo ich ihr nicht mehr gegenüber sitze, realisiere ich erst, dass ich nicht mehr wirklich damit gerechnet habe, ihr noch ein Mal zu begegnen. 

Etliche Bilder flackern mir durch meinen Kopf. Bilder von den Seiten ihrer Tagebucheinträge, von den Songlyriks, die sie den meisten Einträgen voranstellte. Augenblicke, in denen ich sie im Bus beobachtete, in denen ich fasziniert war von ihrem Blick, der so weit zu gleiten schien, so tief zu schweben. Blicke, die genauso gut leer hätten sein können und es dennoch nicht waren. Außer, wenn sie sich auf mich richteten. Ich stütze den Kopf in meine Hände und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Leichter gesagt, als getan.

Was bedeutet ihre Anwesenheit in dieser Bar? Sie und Carlin scheinen sich nahe zu stehen. Wie unwahrscheinlich absurd.... Es fällt mir schwer zu glauben, dass die beiden sich die ganze Zeit über nahestanden. Die ganze Zeit, in der ich nach Runa Ausschau hielt, auf sie wartete, an der Bushaltestelle, auf meinem Platz, gegenüber ihres Vierers. Was wäre passiert, wenn Carlin gewusst hätte, wie Runas Tagebuch aussieht ? Oh Gott... ich fühle mich wie ein Dieb, jemand der eine klare Grenze überschritten hat. Ohne Skrupel, ohne Gewissen, ohne Moral. 

Was würde ich von einer Person denken, die meine persönlichsten Gedanken gelesen hat, ohne mein Wissen, ohne ein Anrecht darauf ? Ich passe zu diesem Ort.. zu den flackernden Oberlichtlampen, dem dreckigen, leicht bräunlichen Boden, dieser Pseudo-Sterilität und der Thematik des Kommens, Nutzens und Gehens. 

Nur weil man einen Menschen vom Sehen kennt, ihn bewundert und seine Gewohnheiten verinnerlicht hat, hat man nicht automatisch einen Freifahrtsschein dafür, in dessen Privaten Raum einzutreten. Sei es nur der Raum der Gedanken, sei es nur ein Buch. 

Mehr denn je wünsche ich mir, ich hätte das Buch nie geöffnet. Oder vielleicht einmal, um zu sehen, ob eine Adresse auf der Innenseite des Buchdeckels steht, oder ein voller Namen. Vornamen, Nachnamen. Dann könnte ich jetzt frohen Gewissens zurück schlendern in die Bar, an den Tresen, zu Runa. Wie beiläufig würde ich die Tasche anheben, ihr Tagebuch herausnehmen, lächelnd sagen "Oh hey, was für ein Zufall dich zu sehen. Wir kennen uns aus dem Bus, mit dem du früher täglich gefahren bist. Keine Ahnung, ob du dich noch an mich erinnerst, aber ich habe damals dein Tagebuch mitgenommen, als du an dem einen Tag so überhastet den Bus verlassen hast. Das Buch,  in dem du so oft versunken geschrieben hast. Ich wollte verhindern, dass es jemandem Fremden in die Hände fällt, der dich noch nie gesehen hat und es dir am nächsten Tag zurück geben. Aber du bist ja nicht wieder eingestiegen. Wie auch immer, es freut mich dich jetzt zufällig hier zu treffen, du hast das Buch sicherlich schon vermisst." 

Sie wäre erst geschockt, vielleicht dezent überrumpelt aber positiv überrascht davon, dass ich an sie gedacht hatte und es ihr wiedergeben wollte. Dann würde sie es mir abnehmen und mich dazu einladen noch etwas mit ihr und Carlin zu trinken. Wir würden den Abend damit verbringen unbesorgt, frei und entspannt miteinander zu reden, zu dritt. Dann würde ich vielleicht mit ihr die Bar verlassen, sie nach ihrer Nummer fragen, wenn ich es mich endlich mal trauen würde. Und ich würde im Dunklen nach Hause gehen, die Lichter, der vorbeiziehenden Autos ignorieren, mein Fahrrad schieben, weil mein Herz zu voll sein würde um zu fahren, weil es Zeit brauchen würde, alles zu verarbeiten. Weil ich die Zeit hinauszögern wollen würde, bis ich Zuhause angelangt wäre. Dann würde ich abends in meinem Zimmer die Kontaktliste in meinem Handy öffnen, ihre Nummer auf eine der Rückseiten der Zeichnungen schreiben, die ich im Bus und aus meiner Erinnerung schon von ihr angefertigt habe. Damit ich die Nummer dennoch habe, selbst wenn ich mein Handy verlieren sollte, oder es kaputt gehen würde. 

Die Tür der Toilette geht auf. Schritte. Kurz darauf höre ich ein Plätschern. Ich bin von nichts angewiedert, außer vielleicht von mir selbst. Gewöhnlich bin ich nicht der Mensch, der sich von starken Emotionen mitreißen lässt. Aber in diesem Moment bin ich so voller Wut auf mich selbst, kurz vor der Grenze zu Selbsthass, nur wegen dieser einen Handlung. Bin voller Verzweiflung über die Situation, dabei ist in der Bar draußen noch nicht ein Mal wirklich etwas Aufsehenerregendes geschehen. Bis auf die Tatsache, dass sie mir so plötzlich, so mir nichts dir nichts, über den Weg läuft. Als wäre nichts dabei. Es reicht aus dass ich eine Vorstellung des Konjunktivs habe, davon, wie es hätte sein können. Das ist Grund genug für meine Verzweiflung. 

Schritte. Der Wasserhahn rauscht und macht  gluckernde, sprotzende Geräusche. Luft in der Leitung. Kurz darauf fällt die Tür wieder ins Schlos. Ich bin erneut alleine. Immer noch überfordert, ratlos und unfähig mich über Runas plötzliche Anwesenheit zu freuen. Stattdessen realisiere ich erstmals, dass ich mich  verändert habe, durch ihre geschriebenen Worte. Ich bin etwas selbstreflektierter geworden, vielleicht bewusster gegenüber diverser gesellschaftlicher Problematiken.

Dennoch hat sich eines nicht wesentlich geändert. Ich bin diesem Mädchen nach wie vor auf irgendeine Weise verfallen, die ich nicht erklären oder benennen kann. Der Gedanke an sie nimmt mich ein. Sowohl im Positiven, als auch im Negativen. Ich stehe nicht auf sie, dafür kenne ich sie zu wenig, zu kurz, zu flüchtig, im Grunde gar nicht. Dennoch macht es etwas mit mir, wenn ich sie in diesem vertrauten Umgang mit Carlin beobachte, auch wenn es nur so kurz war. Ist das Neid ? Neid auf Carlin, dass sie die Chance hat, sich Runa gegenüber so voller Leichtigkeit zu bewegen und zu äußern ? 

Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich eigentlich schon viel zu lange in dieser Kabine hocke... Ich atme tief ein. Komme mir dabei lächerlich vor und durch diese Reaktion wieder verstärkt wie ein Schauspieler in einem Film, der die Anweisungen der Regie erfüllt. Dann schließe ich die Kabinentür auf, gehe hinaus, zum Waschbecken und starre in den Spiegel. Was ich sehe macht mich nicht glücklich, im Gegenteil. Aber wen tut es das schon ? Ich nehme mir irgendwas vor, keine Ahnung was, mein Toilettengang hat mich nicht schlauer gemacht. Vielleicht Mut oder Undurchsichtigkeit oder Charme oder was auch immer... bisschen weniger chaotische Denkmuster wären von Vorteil. Dann verlasse ich die Herrentoilette und begebe mich zurück zum Drehort der Überraschungen.



Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt