6.Kapitel

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Meine Hoffnungen und Ängste zerfliegen mit dem Schließen der Bustüren. Ich habe gehofft, dass das Mädchen heute wieder einsteigen würde und dasss es bloß ein paar Wochen gewesen wären, in denen sie nicht mit dem Bus gefahren ist. Andererseits habe ich mich davor gefürchtet ihr ihr Buch zurückzugeben, was hätte ich sagen sollen wenn sie mich gefragt hätte, ob ich darin gelesen habe ?

Eine Weile starre ich aus dem Fenster, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. In mir ruht eine tiefe Leere. Es ist langweilig und abwechslungslos in diesem Bus geworden, seit sie nicht mehr da ist. Alle Fahrgäste erscheinen mir so gleich und uninteressant. Nicht einer ist dabei, bei dem sich etwas interessantes hinter der Fassade vermuten lässt. Die Menschen hier scheinen sich nicht zu unterscheiden und aufzufallen.

Eigentlich ist das okay, ich kann nicht von jemand anderem etwas erwarten, was ich selbst nicht erfüllen könnte. Außerdem kann es auch negativ sein, aus der Reihe zu stechen. Ich fürchte mich davor. Ich fürchte mich davor anderen aufzufallen. Ich habe Angst, was die Leute wohl über mich denken würden. Ich habe Angst, mich ihrem Urteil zu stellen, denn das Urteil seiner Mitmenschen, mag es noch so durchdacht und vorsichtig formuliert sein, ist stets am schwersten zu ertragen.

Ich bewundere das Mädchen dafür, dass sie so offensichtlich bereit ist, das in Kauf zu nehmen, nur um ganz sie selbst sein zu dürfen.

Heute ist Mittwoch und ich fahre mit meinem Fahrrad in die kleine Innenstadt zur Bar. Im prasselnden Regen geht das Quietschen meines Rads unter. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht zu ziehen. Sie ist aus Stoff und bereits völlig durchnässt, ebenso wie meine schwarzen Chucks, von meiner Jeans ma ganz zu schweigen.

Ich biege um die Kurve und die Bar taucht in meinem Blickfeld auf. Auf den letzten Metern trete ich noch einmal kräftig in die Pedale. Dann springe ich noch während dem Fahren ab und lehne mein Fahrrad gegen die heruntergekommene Sandsteinmauer. Mit gebückter Haltung versuche ich dem Regen, so gut es eben geht, auszuweichen und mein Fahrrad abzuschließen. Ich suche nach Schutz, wo es keinen gibt.

Dann endlich rastet das Schloss ein und ich eile zur Tür und ins Innere der kleinen, warmen Bar. Erleichtert streife ich meine Kapuze aus und ignoriere das leise Plitsch-Platsch der Tropfen, die an mir herab auf den Boden fallen. Ich habe es geschafft die Kälte und Nässe hinter mir zu lassen. Ich verbringe denspäten Nachmittag damit, Carlin zu zeichnen und mein Johannisbeerschorle zu trinken, anschließend fahre ich nach Hause.

„Hallo", rufe ich zur Begrüßung. Dann entledige ich mich meiner nassen Jacke und den Schuhen und gehe den Flur entlang in die Küche. Niemand antwortet mir und ich entdecke keine Menschenseele. Seufzend mache ich mich auf, ins Wohnzimmer und hänge meine Jacke zum Trocknen über einen Stuhl vor dem Kaminofen.

Ich habe bereits erwartet, dass niemand auf mich wartet, wenn ich nach Hause komme. Das ist Normalzustand und es hätte mich eher gewundert, wenn dieses eine Mal jemand meine Begrüßung erwiedert hätte. Ich kehre in die Küche zurück und blicke in den Kühlschrank. Nichts von seinem Inhalt löst in mir Apetitt aus. Auf dem Weg zur Treppe schnappe ich mir meinen Rucksack, der noch im Flur stand und gehe hinauf. An der Türe meine Schwester klopfe ich vorsichtig an. „Taraneh, bist du da ?" Ich warte einen Moment, als sie mir nicht antwortet, öffne ich die Tür.

„Hei Kleine.",ich versuche mich an einem Lächeln und hoffe, dass sie es mir abkauft. „Hi". Meine kleine Schwester sitzt, an die Wand gelehnt, da und lächelt mich zurückhaltend an. In ihren Händen liegt einer dieser dicken Wälzer, die sich immer in ihrer Nähe befinden und ohne die man sie inzwischen kaum noch antrifft.

„Wie war dein Tag ?",erkundige ich mich.
Sie verdreht die Augen. „So wie immer. Ich war mal wieder die einzigste die in Musik ihre Hausaufgaben dabei hatte und unsere Lehrer haben den ganzen Tag auf Mike rumgehackt."

Ich nicke nur. Wenn ich gewusst hätte, was ich darauf erwiedern könnte, hätte ich es getan. Aber ich weiß nach wie vor nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll. Jeden Tag war ihr Tag „wie immer". So gut wie jeden Tag verbringt sie ihren Abend alleine auf ihrem Zimmer und liest oder macht Hausaufgaben.

Jedes Mal habe ich ein schlechtes Gewissen, sobald ich ihr Zimmer wieder verlasse. Sie hat mehr verdient. Sie ist niemand der im Hintergrund stehen sollte, sie hat es verdient, dass sich alle etwas mehr für sie interessieren. Aber unsere Eltern scheinen, was Taraneh betrifft, kein Empathievermögen zu besitzen und mir gegenüber öffnet sie sich immer seltener.

„Okay.",sage ich. Einen Moment herrscht Stille. Schließlich bin ich derjenige, der dem Drang nach Geräuschen zuerts nachgibt.
„Meld dich wenn irgendwas ist, oder du Hilfe in Englisch brauchst."

„Ja, wenn was ist, komm ich rüber.", sie nickt und lächelt mich wieder an. Etwas unsicher tue ich es ihr gleich und schließe dann die Türe hinter mir.

Und sofort ist das schlechte Gefühl wieder da.

Auch wenn in diesem Haus jeder seine Rolle spielt, sind wir immer noch keine Familie und zwei Personen können diese bröckelnde Illusion, auf lange Zeit hin, auch nicht mehr alleine aufrecht erhalten. Ich bin unheimlich froh darüber, dass sich das Buch des Mädchens in meiner Tasche befindet. Es ist genau das, was ich jetzt brauche. Ein Ausbruch aus meinem tristen, monotonen Alltag.

Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt