13.Kapitel

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Fast könnte man meinen ihr Blick sei ein Indiz für Verträumtheit. Der Haken liegt wohl darin, dass Carlin nicht die Verträumte von uns beiden ist, der bin ich. Carlin ist hübsch, intelligent, neugierig und offenherzig. Auf ihrer Stirn bildet sich eine kleine Falte. Ich muss schmunzeln. Als hätte sich ein Gedanke durchgesetzt und wolle dies unbedingt der Außenwelt mitteilen. 

"Ich...Ich bin mir nicht sicher wie sich Freiheit anfühlt. Wenn du so etwas fragst muss man eigentlich erst überlegen wann und warum man sich frei fühlt. Und irgendwie ist es gar nicht so leicht sich ins Gedächtnis zu rufen wann und warum man sich das letzte Mal frei gefühlt hat.

Denn jetzt im Moment fühle ich mich nicht frei. Schau dich doch um, ich sitze in dieser kleinen Bar, wo die Lampe in der Ecke beim Fenster seit einem halben Jahr flackert und sich niemand darum kümmert. Tag für Tag sehe ich neue Menschen, wechsele belanglose Worte mit ihnen und doch ist es immer das selbe. Alles wiederholt sich hier, irgendwie. Manchmal ist die Luft stickig, aber wenn ich lüften würde, würden die Gäste frieren und hier gibt es keine Klimaanlage. Aber ich bekomme Geld für diesen Job und das hilft unglaublich.

Jeden Mittwoch kommst du und zeichnest mich und manchmal reden wir, so wie heute. Im Grunde sind deine Besuche anders, weil du nicht immer da bist und wir nicht über Belanglosigkeiten reden. Aber dann wird mir klar, dass du normalerweise jede Woche vorbeikommst und es sich eben auch wiederholt, so wie alles andere. Dann realisiere ich, dass das alles eine unbefriedigende Situation ist. Eine unbefriedigende Situation, mit der ich mich irgendwann freiwillig abgefunden habe. Aber all das beweist, dass ich mich quasi gar nicht frei fühlen kann. Nicht hier."

Sie schweigt. Ich könnte etwas sagen, aber das würde den Platz für Gedanken einschränken. Stattdessen gleitet mein Blick zu der Lampe in der Ecke, die, die ununterbrochen flackert. Ich glaube Carlin seufzt, aber ich bin mir nicht sicher ob man so leise seufzen kann, dass es kaum zu hören ist.

"Letzten Sommer war ich am Meer. Ich bin dahin gegangen, wo es am billigsten war. Der Preis für eine Nacht auf dem Campingplatz war lächerlich günstig und irgendwann hab ich verstanden wieso. Es gab Dauercamper, die sich fast jeden Abend volllaufen ließen. Sie haben Krach veranstaltet und die halbe Nacht so laut gegrölt, dass ich kaum ein Auge zumachen konnte. Außerdem war das Wasser an dieser Seite der Insel am kältesten, weil es keine Möglichkeit hatte, sich aufzuheizen - es kam direkt aus dem offenen Meer. Der nächste Supermarkt und die nächste kleine Siedlung waren zu Fuß eine Stunde entfernt.

Wahrscheinlich hätten viele ihren Urlaub abgebrochen und wären ohne zu zögern abgereist. Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, also habe ich meine Sachen gepackt, das Zelt zusammengebaut und bin losgelaufen. Mit einem Rucksack auf dem Rücken und dem Zelt in der Hand. Irgendwie bin ich auf die Idee gekommen  an der Küste entlang zu wandern. Nach gefühlten Ewigkeiten hab ich eine kleine Bucht gefunden. Sie war von Felsen umgeben, zumindest an den Seiten. Gegenüber vom Meer war ein Kieferwald. Ich hab mein Zelt auf dem groben Sandstrand zwischen Wasser und Kiefern aufgebaut, obwohl Wild-Camping verboten war. Das hätte mir in dem Moment nicht egaler sein können.

Abends habe ich so lange auf dem Branden der Wellen zugehört, dass ich nicht einmal gemerkt habe, wie sie mich in den Schlaf gesungen haben. Tagsüber saß ich manchmal da und habe nichts gemacht, außer aufs Wasser hinaus zu schauen und  nachzudenken. Manchmal bin ich durch den Kiefernwald gewandert und an anderen Malen bin ich schwimmen gegangen. Das Wasser war eiskalt, doch ich wollte es und deshalb hab ich es aushalten können.

In dem Moment ist mir bewusst geworden, dass alles so schnell vorbei sein könnte. Ich  bin draußen geschwommen und habe alle Gefahren in Kauf genommen. Ich hätte rausgespült werden können, mir hätte die Kraft fehlen können, um den Strand wieder zu erreichen. Ich hätte von einer tödlichen Qualle gestreift werden können oder einen Krampf bekommen können. Kurz gesagt, ich wusste, dass nichts garantiert, dass ich so aus dem Wasser steige, wie ich hinein gegangen bin. Wäre ich ertrunken hätte es Ewigkeiten gedauert, bis jemand Fragen gestellt hätte, da niemand wusste wo genau ich bin. 

Aber weißt du, was mich am meisten überrascht hat ?
Die Tatsache, dass mir das Risiko egal war.

Während diesem Moment, draußen im Meer, kam mir der Alltag so unrelevant vor, wie noch nie. Ich hab mich unbeschwert und sorgenfrei gefühlt und in mir drin war alles dominiert von einer gewissen Leichtigkeit. Dieses Gefühl würde ich am ehesten als ein Gefühl von Freiheit bezeichnen. Ich habe mich leicht und unbeschwert gefühlt und an nichts geklammert und für mich fühlt sich frei sein genau so an."

Carlin lächelt. Nicht mit ihren Lippen, sondern mit ihren Augen. Ich habe das Gefühl aus einer Art Bann zu erwachen. Als hätte ihre Stimme mich an ihre Worte gefesselt und erst jetzt wieder losgelassen. Meine Gedanken drehen sich, aber anders als sonst drehen sie sich nicht im Kreis. Vielmehr ist es so, als stünde ich im Mittelpunkt mehrerer Spiralen und würde versuchen zu den jeweiligen Enden vorzudringen.

"Ich glaube Freiheit fühlt sich für jeden anders an. Vielleicht ist das Gefühl sogar das selbe, aber der Auslöser muss variieren.Nicht jeder wäre in dieser Situation so entspannt gewesen wie du, Carlin. Andere hätten vielleicht Panik empfunden und sich gefühlt als seien sie in einem Albtraum gefangen."

Ich grüble weiter und in meinem Kopf entsteht ein Gedankennetz, voller glühender Lichtfäden.

"Vielleicht müssen wir nicht nur im Auslöser unterscheiden, sondern auch in der Bedeutung der Begriffe. Wenn ich genauer darüber nachdenke, fühlt es sich falsch an unter Freiheit und dem Gefühl frei zu sein das selbe zu verstehen. Ich glaube Freiheit spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab.

Wenn ich im Gefängnis sitzen würde, wäre mir die Freiheit verwehrt. An dieser Stelle kommt die andere Ausdrucksweise ins Spiel, denn ich könnte mich trotzdem frei fühlen. Möglicherweise sogar freier als jemals zuvor. Vielleicht durch meine Tat, durch die ich ins Gefängnis kam. Vielleicht durch den Fakt, dass ich alleine entscheiden kann wie viel man von mir erfährt, den keiner kann meine Gedanken lesen, oder mich zwingen etwas auszusprechen. Sie könnten es höchstens versuchen. 

Wenn man es auf diese Art betrachtet, wäre Freiheit eine Gegebenheit, ein Zustand.
Auf den Gefängnisgedanken bezogen herrscht nicht nur Freiheit oder Nichtfreiheit im Aufenthalt, sondern auch Freiheit im Kopf und in der Entscheidungsmöglichkeit."

Wir geben der Stille gar nicht mehr die Chance sich auszubreiten. Carlin verharrt kurz, dann geht sie auf meine Überlegung ein.

"Können wir wirklich frei entscheiden? Können wir das? Oder ist das nur eine Illusion, der wir uns hingeben weil die Realität zu grausam, zu schmerzhaft ist? Wir werden doch, von unserem ersten Atemzug an, geprägt wie eine Münze. Wie man uns behandelt, wie man mit uns redet, wie man auf uns eingeht, das alles ist ausschlaggebend. All die Dinge hinterlassen Spuren, haben Mitspracherecht wenn es darum geht aus welchem Metall man die Münze macht.

Genaugenomen gibt es schon Einflüsse bevor wir überhaupt geboren sind, die sich später auswirken. Ob wir in einer glücklichen oder einer kaputten Familie aufwachsen verändert etwas in uns. Ob wir Hass am eigenen Leib erfahren oder Liebe. Münzen sind das Produkt des Willen ihrer Maschinen. Münzen spiegeln ihre Umwelt.

Das wirft die Frage auf, ob es eine absolute Freiheit überhaupt gibt? Etwas unabhängiges, einflussresistentes. oder ist Freiheit bloß etwas, was man kleinen Kindern während sie schlafen einflüstert, damit sie nicht merken, dass die Welt kalt ist. Damit sie nicht merken, dass sie in einem Gefängnis leben. Was meinst du Lean? Gibt es mehr als den bloßen Begriff Freiheit?"


Das Tagebuch einer FremdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt