Wenn Engel fliegen pt.2

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*Triggerwarnung (gesamtes Kapitel): Tod, Erwähnung von Erbrechen, extreme Trauer*

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Der häufigste Grund für einen Flugzeugabsturz ist menschliches Versagen. Technisch gesehen sind Flugzeuge mittlerweile so viel sicherer als früher, dass die Ursache für ein Unglück in fünfzig Prozent der Fälle in den Fehlern des Piloten ihren Ursprung findet. So viele Leben, die in der Hand eines einzigen Menschen liegen. So viele Träume, Ziele, Familien, die zerstört werden, wenn diesem Menschen ein einziger fataler Fehler unterläuft. Von jetzt auf gleich kann alles in Trümmern liegen.

Von jetzt auf gleich kann ein geliebter Mensch aus dem Leben gerissen werden.

Meine Hände zittern so sehr, dass ich Angst habe, mein Handy fallen zu lassen. Dass es auf dem Boden zerschellt, wie die Maschine, die Mia sicher nach Hause bringen sollte. Ich rufe ihre Eltern an. Auf dem Festnetz, denn Handynummern habe ich nicht. Das monotone Geräusch des Telefonhörers scheint sich über Minuten zu ziehen. Dann springt der Anrufbeantworter an. Ich will etwas sagen, will sie bitten, mich zurückzurufen, weil etwas Schreckliches geschehen ist, doch es ist, als wäre mir meine Stimme geraubt worden. Die Worte bleiben mir im Hals stecken. So kommt es, dass bloß einige Minuten Stille auf dem Band zu hören sein werden, bevor ich mich endlich dazu überwinden kann aufzulegen.

Noch immer dreht sich alles vor meinen Augen und ich weiß nicht, ob ich es je wieder schaffen werde, mich von den kalten Fliesen in meiner Toilettenkabine zu erheben. Es ist unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Unmöglich, irgendetwas zu tun. Wenn ich hier bleibe, verschmelze ich vielleicht irgendwann mit dem Boden. Mit dem Boden oder der Wand, die zu schwanken scheint, statt meinen Rücken zu stützen. Als ich mich von der Wand löse, wird das Schwanken stärker und ich realisiere, dass ich es bin, die schwankt. Und es wird schlimmer, wenn ich nicht an der Wand lehne. Also lasse ich mich wieder zurückfallen und versuche, mich zu konzentrieren. Ich muss funktionieren. Etwas tun.

Ich wähle eine zweite Telefonnummer und hier hebt jemand ab.

"Helen!" Hannah weint bitterlich am anderen Ende und da weiß ich, dass die Nachrichten über die Tragödie sich bereits im ganzen Land verbreiten. Vermutlich sogar auf der ganzen Welt. "Bitte sag, dass das nicht wahr ist."

"Ich..." Meine Stimme bricht und ein trockenes Schluchzen verlässt meine Lippen. Ich weiß, dass jetzt, da die Tränen einmal angefangen haben, sich ihren Weg aus meinen noch immer scheckgeweiteten Augen hinaus auf meine Wangen zu bahnen, die Dämme brechen. Und dass ich mich fühle, als könnte ich nie wieder aufhören zu weinen.

"Vielleicht ist es nicht wahr.", flüstert Hannah. "Vielleicht ist sie nicht eingestiegen. Vielleicht hat Taehyung sie aufgehalten."

"Taehyung." Mein Herz brennt. Und es bricht. Ich weiß nicht, wie Taehyung diesen Schmerz ertragen soll. "Ich muss zu ihm."

"Und wenn er gar nicht zu Hause ist, Hel? Wenn er Mia wirklich hinterher gefahren ist und sie aufhalten wollte?"

"Er wird zu Hause sein." Die Tränen strömen meine Wangen hinunter, während ich mich mental darauf vorbereite, meine nächsten Worte auszusprechen. "Er wird zu Hause sein und tief und fest schlafen. Mia ist... Mia ist tot. Und er weiß es nicht."

"Oh Gott.", schluchzt Hannah und mein Magen krampft sich zusammen. Gerade rechtzeitig beuge ich mich über die Toilettenschüssel, während mich eine Welle der Übelkeit ein zweites Mal in dieser Nacht schüttelt. Hannahs Stimme dringt undeutlich aus dem Lautsprecher des Handys, kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und das Atmen tut weh. Ich bringe kaum die Kraft auf, den Abzug der Toilette zu betätigen.

"Ich rufe ihn jetzt an.", krächze ich dann und wische mir den Mund ab. "Ich rufe Taehyung an und dann fahre ich in den Dorm."

"Bist du sicher, dass du überhaupt imstande dazu bist?", fragt Hannah mit wackliger Stimme. "Solltest du nicht erst einmal-" 

Willkommen in Seoul [BTS Fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt