Revanche

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Da steht er also, verwirrt und in einer abweisenden Haltung, nachdem er sich dank Taehyungs Schubs fast der Länge nach direkt vor meiner Nase hingelegt hätte. Er trägt eine schwarze Jeans und einen langen Parka. Seine dunkle Augen schweifen durch die Halle, sehen alles, nur nicht mich. Unverhohlen starre ich ihn an, als würde ich ihn das erste Mal sehen. Vielleicht, weil ich mir wirklich sicher war, dass ich ihm nie wieder gegenüber stehen würde. Zumindest nicht in diesem Jahr.

Ich presse die Lippen aufeinander und balle die Hände zu Fäusten. Es ist nahezu lächerlich, dass ich meine Gefühle nicht im Geringsten kontrollieren kann. Sobald ich seine Stimme gehört habe, noch bevor er auch nur einen Fuß durch die Tür gesetzt hat, ist mein Herz aus seinem zweiwöchigen Winterschlaf erwacht und pocht so schnell gegen meinen Brustkorb, dass es fast schmerzhaft ist. Und auch wenn ich ihn schon für längere Zeiträume als läppische zwei Wochen nicht gesehen habe, kommt es mir jetzt so vor, als wäre es eine Ewigkeit her.

Vielleicht, weil ich in diesen zwei Wochen mein Möglichstes getan habe, nicht an ihn zu denken und meine Gedanken doch in jeder Sekunde um ihn kreisten. Vielleicht aber auch, weil es mich verdammt große Mühen gekostet hat, ihn nicht zu sehen und ich mir mein Leben selbst schwer gemacht habe, indem ich mich einmal in der Geschichte der Menschheit an mein Ultimatum halten und keinesfalls einen Schritt auf ihn zugehen wollte. Ein Ultimatum, das sicherlich ein Fehler war, das kann ich gar nicht leugnen. Jemanden vor eine solche Wahl zu stellen, ihm gar zu drohen, ist etwas, das ich selbst verabscheuen würde. Und ich hätte niemals gedacht, dass ich selbst einmal diejenige sein werde, die so ein Ultimatum stellt. Warum also haben diese Worte meine Lippen verlassen?

Wenn du jetzt da rausgehst, dann werden wir uns nie wieder sehen.

Die Verzweiflung, schätze ich. Die Verzweiflung und dass ich vor meinen Augen gesehen habe, wie er so sehr leidet und so schwach ist und ich so machtlos bin. Und die Worte purzelten heraus, bevor ich näher über ihre Bedeutung nachdenken konnte.

Festgefahren in der Einstellung, dass ich ihn in Singapur wirklich das letzte Mal gesehen habe, habe ich mich außerdem immer mehr durch die Tatsache, dass es ihm scheinbar auch völlig egal ist, dass wir uns nie wiedersehen und er nicht einmal einen Schritt in meine Richtung unternommen hat - obwohl er meiner Meinung nach ganz klar ebenfalls Fehler gemacht hat.

Andererseits weiß ich, dass ich nicht erwarten kann, dass er mir hinterherläuft, wenn ich ihm ein derartiges Ultimatum stelle. Sicher hat er einfach begonnen, damit abzuschließen, damit es nicht mehr so wehtut. Das hätte ich vielleicht auch tun sollen, wenn ich es mir recht überlege. Aber ich konnte nicht. Noch nicht. Vielleicht nach dem heutigen Tag. Vielleicht gelingt es uns, miteinander abzuschließen. Im Guten.

Dazu müsste allerdings erstmal irgendetwas geschehen, denn bisher stehen wir uns immer noch mit guten fünf Metern Abstand gegenüber und sprechen kein Wort miteinander.

Ein Teil von mir möchte jedes Klischee aus Liebesgeschichten bedienen, alles ausblenden und einfach zu ihm rennen und ihn so stürmisch umarmen, dass es ihn zu Boden reißt. Ich sehne mich fast schmerzlich danach, mich an ihn zu schmiegen, meine Nase in seine Halsbeuge zu drücken und ihn so lange zu küssen, bis es mir den Atem raubt.

Es ist vor allem mein rasendes Herz, das mich schier dazu drängt, diesem Verlangen einfach nachzugeben. Doch mein Verstand, der andere Teil, hält mich vehement davon ab. Denn so einfach ist es nicht. Ich bin immer noch wahnsinnig wütend auf ihn, wahnsinnig fassungslos, dass er sich selbst so etwas antun konnte. Enttäuscht, dass er mir vorwirft, ihn nicht zu verstehen, obwohl ich mir nie anmaßen würde, zu glauben, dass ich oder irgendetwas anderes wichtiger als seine Auftritte und seine Fans sein könnten. Erschüttert von der Eiseskälte, die er bei unserem Streit ausgestrahlt hat.

Willkommen in Seoul [BTS Fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt