31 | Segen und Fluch. (1/2)

768 29 38
                                    

KAAN ALBAYRAK
Nisans älterer Bruder

Der Tag hätte so gut starten können. Normalerweise wurde ich jeden Morgen durch das Gelächter meiner kleinen Tochter geweckt. Von meiner Frau, die mir das Frühstück ans Bett bringt und mir mitteilt, wie sehr sie mich liebt und sich auf den neuen Tag freut. Doch immer wieder wurde mir bewusst, dass man im Leben nicht immer das bekam, was man sich wünschte.

»Er steht schon wieder vor der Tür«, weckte mich die angespannte Stimme meiner Ehefrau Layla. Sie zog die Rolläden der Fenster abrupt hoch und mir die Bettdecke vom Körper. Vom daraus entstehenden Windzug wurde mir ganz kalt um die Hüften.

Ein Blick in ihr Gesicht offenbarte mir eine dünne Schicht Schminke, was bedeutete, dass sie etwas vorhatte. Besonders die zimtfarbenen Schatten auf ihren Augenlidern zogen meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Du stehst jetzt auf und redest dem Typen mal ins Gewissen«, forderte sie aufmüpfig und vor Wut ganz erregt. »Wenn ich ihm sage, dass er hier nichts verloren hat, sagt er, das wäre nicht meine Entscheidung. So ein Untermensch! Schick ihn bloß weg, hörst du?«

Sie unterbrach kurz, um einen Blick auf die Uhr über der Tür zu werfen. »Scheiße, ich komme viel zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch!«

Ihre Forderungen ließ ich unbeantwortet. Stattdessen setzte ich meinen müden Körper in Bewegung, streckte mich einmal ausgiebig. Doch es zeigte keine Wirkung. Heute gab es also kein Frühstück im Bett. Nicht mal einen Kuss, der mich weckte. Ich stapfte ins Badezimmer, das direkt gegenüber der Türschwelle lag und übte mich in einer Partie Schattenboxen vor dem Spiegel. Am liebsten hätte ich Salman genauso auseinandergenommen wie mein Spiegelbild.

Natürlich wusste ich, worum es Layla ging. Wir wären nicht grundlos in die tiefsten, umliegenden Provinzen gezogen, wenn mit meiner Familie und den dazugehörigen Strukturen alles gut wäre. Dieser Neuanfang war unser Mittel zum Zweck gewesen, uns von einer kranken Verwandtschaft loszulösen.

Layla fürchtete meine Familie, die einen Hang zur organisierten Kriminalität hegte, nach außen aber den Eindruck einer perfekten, integrierten Erfolgsgeschichte verschaffen wollte. Sie hassten Layla und hatten mir immer wieder abgeraten, die Tochter einer – aus ihrer Sicht – dreckigen und ungebildeten kurdischen Familie zu heiraten.

Gebracht hatte es nichts. Wir waren frisch verliebt gewesen, Layla nach dem Urlaub in Paris schwanger geworden und damit unser Schicksal besiegelt. Meiner Familie kam das einem Verrat gleich, auf den es Konsequenzen geben musste. Aber das war mir egal gewesen. Wir wussten, wir würden Eltern werden und eines Tages ein zufriedenes, unabhängiges Leben abseits meiner Familie führen.

Genug Gedanken.
Nachdem ich mich auf dem Klo erleichtert hatte, spritzte ich mir eiskaltes Wasser in die müden, geröteten Augen. Das Wasser raubte mir für einen kurzen Moment sämtliche Spannung. Die Ruhe, die durch den Gang ins Badezimmer entstanden war, wurde durch erneutes Schellen der Klingel unterbrochen.

Das Holztür knallte gegen die Wand neben dem großen, runden Wandspiegel. Layla, die ihr beiges Kopftuch noch immer nicht gebunden hatte, trat aufmüpfig herein.

»Kaan, schick ihn weg!« Mit einem Grummeln verdeutlichte sie mir ihren Unmut und schob mich in den Flur. Die Tür fiel zu und der Schlüssel drehte sich im Schloss rum.

»Dir auch einen guten Morgen, mein Schatz«, surrte ich. Ihr Gemecker nahm ich noch wahr, als ich schon im Schlafzimmer angekommen war.

Ich griff nach irgendeiner Jogginghose und zog sie mir in Windeseile über. Dabei blickte ich aus dem Fenster, beobachtete Salman, wie er sein Handy zückte und eine Nummer einwählte. Im selben Moment klingelte mein altes Nokia auf dem Schreibtisch.

HABAYTIKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt