30 | Darf ich vorstellen?

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ADNAN

17:30

»Packen Sie alles in die Box«, sprach der genervte, glatzköpfige Vollzugsbeamte, während wir kooperativ unsere Taschen leerten und uns auf eventuell versteckte Gegenstände abtasten ließen. »Geldbeutel, Handys, Armbanduhren. Sie bekommen Ihre Wertsachen zurück, sobald die Besuchszeit vorüber ist.«

Natürlich ergab die Sicherheitskontrolle grünes Signal. Wir durften nun die Justizvollzugsanstalt betreten, die sich außerhalb der Stadt befand und in der mein Vater, Ahmad, nun seit vier Jahren seinen Alltag bestritt.

Je näher wir dem Besuchsraum kamen, umso mehr zog sich mein Brustkorb zusammen. Ich hatte es zuvor nie hinter mich gebracht, ihn zu besuchen. Ich hatte es nie gewollt. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass ich ihn überhaupt mal wiedersehen würde. Scheinbar wollte es das Schicksal anders. Beim nächsten Mal würde ich ihm unter freiem Himmel begegnen, wenn wir seine Sachen ins Auto luden und nach Hause fahren würden.

»Ich bin so gespannt«, sprach Nisan. »Eure Erzählungen waren schlimm genug. Ob er immer noch so drauf ist wie früher?«

»Freu dich nicht zu früh. Daran, dass er ein Arschloch ist, wird der Knast wenig geändert haben. Danke, dass du überhaupt mitkommst.«

Ich hatte mir ausführlich Gedanken darüber gemacht, ob ich Nisan überhaupt mitnehme. Zugegeben fühlte mich ein wenig schlecht. Wir lebten erst ein paar Tage zusammen und ich hatte Angst davor, sie abzuschrecken. Es war ungewiss, wie mein Vater auf sie reagieren würde. Ich hoffte, er würde mich nicht zu sehr vor ihr bloßstellen. Andererseits wollte ich keine Geheimnisse mehr vor Nisan haben. Und so musste sie auch die schlechten Seiten unserer Familie kennenlernen. Es würde schlimmer sein, ihr dies vorzuenthalten.

»Ich wette, mein Vater ist schlimmer«, scherzte sie, um die Stimmung zu lockern. »Aber bevor ich es vergesse. Wie hat deine Schwester eigentlich reagiert, als du es ihr erzählt hast?«

»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass sie sich gefreut hat«, erzählte ich. »Aber eigentlich ist sie ganz ruhig geblieben.«

»Sie haben eine Dreiviertelstunde«, grätschte der Gefängniswärter in unsere Unterhaltung, ehe wir den Besucherraum betraten, in dem sich bis auf ein paar Tischgruppen nicht viel befand. »Aber versprechen Sie sich nicht allzu viel von ihm. Mit uns spricht er nur, wenn es nötig ist.«

Nur knapp konnte ich mir einen Kommentar verkneifen, dass es vielleicht sogar besser war, wenn er gar nicht sprach.

Erinnerungen an früher wurden wach.
Wenn er nicht so besoffen war, dass er nicht mal mehr sprechen konnte, brachte er meist nur Scheiße über seine Lippen. Mehr als Menschen niedermachen oder sich über die ungerechte Welt beklagen hatte er noch nie gekonnt und mehr erwartete ich auch heute nicht.

Dennoch stieg die Anspannung, je näher wir einer einzelnen Person kamen. Einem Mann, der erst Mitte vierzig war, den der Knast und die Krankheit allerdings so schwer gezeichnet hatte, dass man ihn locker als Ende fünfzig verkaufen konnte. Ergrautes, schütteres Haar. Eingefallene, faltige Züge im blassen Gesicht, die von einem ungleichmäßigen, schwarzen Bartschatten eingerahmt wurden.

Damals, so erinnerte ich mich, war er ziemlich kräftig gewesen; heutzutage war er davon jedoch meilenweit entfernt, als befände er sich in einem Hungerstreik. Der Wohlstandsbauch war gewichen und die Leere in dem ausgewaschenen Poloshirt, in dem sich je nach Bewegung die einzelnen Rippen abzeichneten, ließ selbst mich ein Gefühl von Hunger und Magerkeit verspüren.

Es dauerte einen Moment, bis Ahmad – so sein Name – realisierte, dass zwei Leute vor ihm standen und sich ihren Teil dachten. Als mein Anwalt Dejan mir von der Erkrankung unseres Vaters erzählt hatte, war dieses Bild alles andere als das gewesen, was ich mir vorgestellt hatte. Er konnte einem nur leidtun.

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