36 | Dilêmin.

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HILAL

23:38

Ich war so still, dass ich förmlich über den Boden schwebte, während ich nach dem beigen Mantel am Garderobenständer griff und mich darin einhüllte. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass alle Lichter aus waren und ich aus keinem Zimmer mehr einen Laut hörte, bis auf das erdbebenartige Schnarchen aus Merwans Zimmer, öffnete ich die Wohnungstür und begab mich ins zappendustere Treppenhaus.

  Ich hatte mich noch nie nachts rausgeschlichen. Mein Herz pochte dermaßen laut, als könnte es die Stille der Nacht durchbrechen und mich auf der Stelle verraten. Jeden noch so vorsichtigen Schritt auf den knarzenden Treppenstufen vernahm ich selbst als tiefgreifende Erschütterung. Wenn meine Mutter, Merwan oder gar Adnan herausfänden, was ich hier tat, hätte das vermutlich weitreichende Konsequenzen für mich. Nur der Gedanke an Azad ließ mich weitermachen. Der Gedanke an seine warmen braunen Augen, die mich musterten als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt, machte all die Angst und Nervosität irgendwie erträglich für mich.

Wenige Minuten später hatte ich endlich das Erdgeschoss erreicht und war zur silbergrauen Haustür vorgedrungen. Ich trat nach draußen und merkte, wie der Wind in mein Gesicht peitschte. Es roch winterlich, obwohl es bereits Frühling war. Die Straßenlaternen tauchten die Umgebung in ein sanftes, goldenes Licht, während die umliegenden Wohnhäuser, welche ich tagsüber so grottenhässlich fand, nur als dunkle Silhouetten erkennbar waren. Warum konnte es nicht immer Nacht sein? Nachdem ich die Gedanken hinter mir gelassen hatte, schnürte ich den Mantel noch ein wenig enger an meine Taille heran, richtete meine Haare, die sich durch den Wind in alle Richtungen verteilt hatten und entfernte mich zügig von der Nachbarschaft.

Auf dem Weg zum Park, der etwa fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt war, musste ich an Nisan denken. Obwohl sie mit meinem Bruder zusammen und für mich mittlerweile so was wie eine beste Freundin geworden war, hatte ich sie verarscht. Sie hatte mich auf das kurze Treffen mit Azad begleitet und glaubte, dass sich unser Kontakt lediglich auf die Schule beschränkte. Dass wir uns schon seit ein paar Wochen heimlich trafen und längst einen Schritt weiter waren, ahnte sie wahrscheinlich nicht. Auch wenn mich kurz das schlechte Gewissen plagte, fand ich es erstmal besser, es sie nicht wissen zu lassen.

Das Kribbeln in meinem Bauch wurde stärker, als ich den Park erreichte. Die Bäume, die tagsüber so friedlich wirkten, warfen unheimliche Schatten auf den Boden. Die alten Laternen leuchteten den Asphalt nur unzureichend aus, wodurch ich mein Schritttempo reduzierte und mich gründlicher umsah. Hier im Park befand sich zu dieser Uhrzeit niemand mehr, bis auf eine einzelne Gestalt, die auf dem gegenüberliegenden Parkplatz lässig auf der Motorhaube seines Autos saß. Es war Azad.

Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Selbst in unendlicher Dunkelheit hätte ich ihn an seiner Körperhaltung erkennen können. An der Art, wie er leicht nach vorne gebeugt saß und die Hände tief in die Taschen seiner dicken Winterjacke vergrub. Er schaute ab und zu lässig hin und her, tat so, als hätte er mein Erscheinen noch nicht mitgeschnitten, doch ich wusste, dass er mich bereits von Weitem erkannt hatte. In diesem Augenblick waren wir die beiden einzigen Seelen weit und breit.

»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er aufstand und auf mich zukam. Es war genau das Lächeln, welches meine Sorgen und Ängste für einen Augenblick vergessen lassen konnte. Immer und immer wieder. Ich beschleunigte wieder und konnte es kaum erwarten, in seiner Nähe zu sein.

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