02 | Vernunft.

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»Zeig niemanden wie gebrochen du bist;
wie gebrochen sie dich haben.
Lass niemanden deine Tränen,
deinen Schmerz sehen.
Außer dir selbst und Gott;
kann dir niemand helfen.«

• • •

Während der Jüngere sich die Zeit nahm und einige Verbänder, Pflaster und Tücher wechselte, empfand er es so, als säße der Ältere auf heißen Kohlen. Sein Bruder war ein ungeduldiger Mensch. Und so war er auch jetzt stets unruhig und begutachtete die Fremde aus der Ferne; nur für den Fall, dass sie erwachen würde und er sich aus der Affäre ziehen konnte. Sie musste ja nicht wissen, dass ihn die ganze Zeit über das schlechte Gewissen plagte.

»Man hat sie übel zugerichtet. Denkst du nicht, wir sollten sie ins Krankenhaus bringen?«, fragte der Jüngere, als er mit dem Check durch war und die Einweg-Handschuhe von seinen Händen strich. »Stell dir mal vor, man sucht nach ihr. Ihre Familie macht sich bestimmt Sorgen, Adnan

Als sein Bruder ihn musterte, wandte der Jüngere seine grünfarbenen Augen von ihm ab und erhob sich vom Sessel. »Was hätten wir denn tun sollen? Sie dorthin bringen und warten, bis sie auf den Beinen ist, nur damit sie wieder abgestochen wird? Sei kein Trottel.«

Merwan, der zweitjüngste von Adnan Yasins zwei Geschwistern, war Notfallsanitäter und hatte in der Verarztung der jungen Frau seine beste Arbeit geleistet. In letzter Sekunde hatten sie ihren fast schon leblosen Körper vom Verbluten abgehalten und sie nach Hause geschafft, wo Adnan es für viel sicherer hielt.

Doch Merwan war anders als sein eigensinniger Bruder. Viel zurückhaltender, der Gerechtigkeit treuer und vor allem eines: besorgter. Er hielt die Idee, das Mädchen mit nach Hause zu nehmen, für besonders problematisch und schwer durchziehbar.

Die dunklen Augenringe hatten sich tief in beide Gesichter gefräst. Die ganze Nacht über hatten sie kein einziges Auge zugetan, und das nur, um überprüfen zu können, ob sich der Zustand der Fremden im stabilen Rahmen hielt. Gleichwohl blieb die Frage übrig: Wer kam auf die Idee, sie aus dem Hinterhalt heraus niederzustechen? Sie war eine schöne Dame im besten Alter.

»Hör mal gut zu«, schlug Merwan nun andere Töne an. »Ich hab gern geholfen. Menschenleben retten ist mein Job. Aber das ist nicht unsere Sache. Ihr Privatleben interessiert uns 'nen Dreck, Bruder.« Er klopfte seinem älteren Bruder auf die Schulter, ehe er sich einen Blick auf die Armbanduhr genehmigte. Dann fuhr er fort. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Du hast heute frei. Dann kannst du dich ja um sie kümmern.«

Adnan spürte ein merkwürdiges Gefühl innerhalb seiner Magengrube. Es rumorte, zog, klammerte. Wie konnte Merwan ihn gerade jetzt allein lassen? Wie sollte Adnan sich um eine verletzte Person kümmern? Fragen über Fragen. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun muss ...«

»Es reicht, wenn du ein nasses Tuch auf ihre Stirn legst. Die Frau glüht, hat Fieber ohne Ende.«

Kommentarlos wandte Merwan sich ab und verließ das Zimmer still. Die Tür zog er hinter sich zu. Adnan war von nun an auf sich allein gestellt. Er saß dort allein mit dieser Frau, welche vollkommen reglos, und nur in eines seiner Shirts gekleidet schlummerte. Adnan beschloss, dem Rat seines jüngeren Bruders Folge zu leisten.

Merwan hatte immerhin jahrelang studiert und eine Ausbildung genossen, kannte sich mit der menschlichen Anatomie bestens aus. Er musste wissen, wovon er sprach, denn immerhin hing von seinen Ratschlägen vieles ab. Oft Leben und Tod.

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