10 | Auf wen Verlass ist.

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NISAN

»Es hat mich gefreut, dass du hier warst. Aber du bist eine junge Frau voller Leben. Da du gesund bist, solltest du versuchen, dein Leben wieder in den Griff zu kriegen.«

Alle Klamotten, die mir zur Verfügung gestellt worden waren, hatte ich gewaschen und fein säuberlich im schwarzen Turnbeutel verstaut, welchen Adnan mitgegeben hatte. Das war jetzt mein Inventar, mein spärlicher Besitz. Früher hatte ich alles, jetzt hatte ich nichts mehr. Bis auf diese fremde Kleidung, welche sich nur schwer an die Konturen meines Körpers anzuschmiegen wussten. Gebrauchte Kleidung, die von der Schwester meines Ex-Freundes stammte. Es gab weitaus Angenehmeres, aber da ich quasi mit leeren Händen dastand, musste ich nun für alles dankbar sein.

»Ach, Doktor«, prustete ich kläglich aus und fiel dem gastfreundlichen Herren in die Arme. »Wo soll ich hin? Wohin führt mich das Schicksal?«

Ich verlangte nach Antworten. Nach Antworten, welche mir Doktor Hünel nicht liefern konnte. Wie sollte er auch die Bestimmung einer armen, alleingelassenen Frau ablesen, die er gerade mal eine Woche kannte?

»Du könntest Adnan um Hilfe bitten.« Seinen Vorschlag beantwortete ich lachend. »Adnan? ... Da bringen mich keine zehn Pferde hin.«

Er ging sich gedankenvertieft durch den Bart und dachte über die verbleibenden Optionen nach. »Die Familie besitzt ein, zwei Wohnungen. Ich werde da was für dich arrangieren, Mädel.« Huzur zückte sein Handy und wählte auf dem Display Adnans Kontakt. Aus dem Affekt entriss ich ihm Sekunden später das Handy. »Nein. Ich möchte Adnan und seiner Familie nichts schuldig sein. Rufen Sie ihn nicht an, ich komme allein zurecht. Ich komme bei Gönül unter. Ihre Familie hat genug Platz.«

»Ich rate dir davon ab«, flüsterte Huzur still. Er warf einen Blick nach draußen. Ehrlich gesagt war das Wetter alles andere als sommerlich, einladend und warm. Dunkle Gewitterwolken wölbten sich am Himmel und die Straße schien unter all dem Regen zu überfluten.

»Ich verstehe, Gönül ist deine Bezugsperson. Aber spätestens wenn sie ihrer Familie sagt, dass du eine Weile bei ihr unterkommst, werden sie misstrauisch und stellen kritische Fragen. Willst du das?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Aber ich fühle mich so allein«, drückte ich meine Sorge aus. »Klingt komisch, aber selbst hier habe ich mich in den letzten Tagen wohler gefühlt, als mit der Gewissheit zu leben, auf der Flucht vor meiner tyrannischen Familie irgendwo allein unterkommen zu müssen.«

Huzur akzeptierte meinen Standpunkt, zog das Handy wieder vorsichtig aus meiner Hand und schaltete es ab. »Okay. Vielleicht ist Gönül dein bester Rückzugsort. Du weißt, dass du dich hier immer melden kannst, wenn was ist, ja? Ich gebe dir schnell meine Nummer und Adresse, damit du mich erreichen kannst. Ich stehe hinter dir, Nisan. Die Gewalt an Frauen muss ein Ende haben.«

Wow. Ich hätte nicht gedacht, dass Huzur ein Mann war, dem das Schicksal einer belanglosen Frau so nahe ging. Ob es in seinem, oder dem Leben seiner Liebsten auch schon einmal Gewalt und willkürliche Handlungen seitens der Familie gegeben hatte?

»Pass auf dich auf. Und wenn es gar nicht geht, wacht Huzur über eines seiner vielen Kinder.«

Huzur wog mein Gesicht in seinen Händen, bevor er mich freundschaftlich umarmte. Einen Doktor auf meiner Seite zu haben, war die wertvollste Errungenschaft seit Tagen.
Er konnte mir in Zukunft weiterhin behilflich sein. Ich nahm den Duft des Kolonya genüsslich auf und wünschte dem Herren alles Gute, bevor ich das Zimmer verließ.

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