01 | Wie alles begann.

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NISAN KAYA

Seine fast schon unangenehm warmen Lippen lagen auf meiner Stirn auf. Ich riss mich nicht von ihm los, sondern hielt einfach still. Nicht, weil ich ihn liebte, nein. Nicht, weil ich vorhatte, die liebe und mundtote Ehefrau zu spielen - denn eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor, mich in eine Form pressen zu lassen. Er sah das Ganze ähnlich; hoffte ich zumindest. Nur der Fotograf, der unsere Hochzeitsfotos schoss, war vor Euphorie nicht mehr zu bremsen. Er wies uns an, wie wir unsere offensichtlich falsche Liebe noch besser, noch authentischer und detailgetreuer aufs Papier kriegen konnten.

Hätten sich auf den Fotos Worte statt unserer gefälschten Glückseligkeit befunden, hätte man ein ganzes Buch voller gelogener Einzelheiten binden müssen. Es war Zwangsheirat, keine freiwillige Bindung. Nur unsere Eltern waren es, die uns aus unserem bisherigen Leben ausrissen und uns lehrten, die wahre Liebe, wie man sie im Westen kennt, sei etwas total Hinfälliges, und vor allem Zeitverschwendung. In ihren Köpfen ging es nicht um das Glück ihrer beiden Kinder, nein; es ging um noch viel Belangloseres. Es ging um Ansehen, um einen guten Ruf; es ging um die bruchsichere Fassade zweier altmodischer orientalischer Familien.

Auch wenn wir nur die nötigsten Worte miteinander gewechselt hatten, wusste er doch ganz genau, wie ich mich fühlte. Oder könnte sich ein Playboy, wie mein Ehemann es war, irren, wenn ihm klar würde, dass sein bisheriges, vom Rumtreiben geprägtes Leben ein abruptes Ende findet, weil seine Eltern ihm mit dem Vollenden des fünfundzwanzigsten Lebensjahres auf einmal in einen goldenen Käfig einsperren?

Ich bin alles andere als ein Mann für die Ehe, sagte er bei unserem ersten, wirklichen Gespräch damals. Er lachte und grinste dämlich vor sich hin, nur um seine Betroffenheit und Verzweiflung argwöhnisch zu überspielen. Und ich hatte alles daran gesetzt, meine Eltern davon zu überzeugen, uns nicht aneinander zu ketten.

Doch man trat mich mit Füßen.
Man trat uns mit Füßen, beraubte uns unserer Meinung, beschnitt sämtliche Freiheiten. Man steckte ihn in den Smoking und mich in den ulkigen, kitschigen Tüll in Farbe Weiß.

Ich versuchte, mich zu einem bescheidenen Lächeln durchzuzwingen und nicht allzu zerstört zu wirken. Ich war zerstört, mein Leben war, mehr oder weniger, zerstört. Ich wusste es und er musste es noch besser wissen. Er schmiegte sich an mich heran, doch ich spürte vor allem eines ganz deutlich: die Unsicherheit und Sorge, die sein Mark und den restlichen Körper erschütterte.

»Küsst euch doch bitte einmal, ja?«, hallten die italienisch akzentuierten Stimmtöne durch das geräumige, sonst aber einrichtungskarge Studio. Der Verlobte sah mich an; ich erwiderte den restlos ausdruckslosen Blick. Eine unangenehme Sphäre umgab uns. »Also dann«, tönte es seinerseits. Es war für mich unerträglich zu sehen, wie er dem Ganzen Folge leisten wollte, wie er langsam die Augen schloss und sein von dreitägigen Bartstoppeln übersätes Gesicht auf meines hinzu bewegte.

Fast schon wollte ich mich dem ganzen Spiel hingeben; nun, dann hätte ich es wenigstens hinter mir gehabt. Aber ganz kurz, bevor sich seine Lippen auf meine legen konnten; bevor sein Nasenbein meines traf, da hatte ich auf einmal genug. Im Affekt schnellte meine Hand in sein Gesicht, er schreckte sofort zurück und ließ urplötzlich von mir ab. All die gespielte Glückseligkeit, die sich zuvor im Raum befunden hatte, war restlos geschwunden.

Ich fuhr mit meinem Körper zu all den Sachen, die ich mitgebracht hatte. Zur roséfarbenen Handtasche und dem weißen Mantel aus Samt. Beides schnappte ich mir und steppte auf dem schnellstmöglichen Wege nach draußen. In die frische Luft, in meine Rettung.

HABAYTIKWo Geschichten leben. Entdecke jetzt