37 | Schuld und Vertrauen

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NISAN

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Eine neue Benachrichtigung
• Adnan, 05:38

Guten Morgen, Nisan.
Muss heute früher auf die Arbeit.
Bitte weck Hilal für die Schule auf.
Sorg dafür, dass sie da auch hingeht.
Bis später. Liebe dich.
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Als ich allmählich wach wurde, erinnerte ich mich an was. Adnan hatte vor mehreren Tagen bereits erwähnt, dass er in nächster Zeit wohl in Überstunden versinken würde. Nachdem er suspendiert worden war, wollte er nun alles daran setzen, das Vertrauen seiner Vorgesetzten zurückzugewinnen. Sanft hatte er mich darauf vorbereitet, dass wir tagsüber nur noch wenig Zeit miteinander verbringen könnten. Aber anstatt in Hektik zu verfallen, hatte ich das als Chance gesehen, mich seiner Familie ein bisschen anzunähern.

Gleichzeitig spürte ich, wie ich immer mehr in die kleinen, stillen Routinen der Familie eingebunden wurde. Die Anfangszeit, die ich immer scherzhaft als Welpenschutz bezeichnet hatte, wich nun dem Alltag – dem echten Leben dieser Familie. Mit all ihren Sorgen, Problemen und Streitigkeiten. Ich begann, mich teilweise um Hilals Erziehung zu kümmern, Maryam im Haushalt zu unterstützen und Adnan eine verlässliche Stütze zu sein. Und überraschend fand ich darin nicht nur Freude, sondern auch die Stabilität, nach der ich mich so lange schon gesehnt hatte.

  Nur noch einmal die Augen zumachen – nur für ein paar Sekunden, die wie Wimpernschläge davonzogen, bevor mein Wecker erneut klingelte. Zeit, aufzustehen, ein gutes Vorbild zu sein und Hilal für die Schule zu wecken. Immer wieder hatten ihre Brüder mir eingebläut, wie gern Hilal den Unterricht schwänzte. Sie hatte bemerkt, dass sich keiner hier große Mühe gab, konsequent darauf zu achten.

  Widerwillig schob ich die warme Bettdecke zur Seite und setzte meine Füße auf den kalten Boden, während ich den Jungen Klängen des Morgens lauschte. Meine weichen Hausschuhe schönen beinahe zu flüstern, während ich durch die stille und dunkle Wohnung schlich. Ich gähnte leise, noch ganz verschlafen, streckte mich und ließ den ersten Hauch von Wachheit in meine Glieder ziehen. Die Dämmerung lag wie eine schwere Decke über dem Haus, und ich ließ die Nachricht von Adnan beiseite. Ebenso deaktivierte ich den Wecker und begab mich vor ihre Zimmertür. Heute lag es an mir, Hilal zur Schule zu motivieren.

  Behutsam öffnete ich die Tür, atmete noch einmal tief durch und flüsterte sanft: »Hilal, aufstehen.« Meine Stimme klang ganz harmonisch, bevor ich das Licht anschaltete und kurz davor war, sie zu wecken. Sie würde bestimmt rebellieren. Nur noch fünf Minuten. Licht aus! Aber Adnan hatte mich oft dazu ermahnt, konsequent zu bleiben. Vielleicht bin ich einfach zu sanftmütig, dachte ich, als das Zimmer plötzlich in warmes Licht getaucht wurde.

  Doch etwas fühlte sich seltsam an. Das Bett war leer, unberührt, die fliederfarbene Tagesdecke makellos und glatt, ohne die kleinste Falte. Der Raum schien still zu atmen, als wäre er seit Stunden verlassen. Mein Herz stolperte.

  »Hilal?«, rief ich etwas lauter, beinahe flehend, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht nur im Haus verkrochen hatte. Keine Antwort. Mein Puls beschleunigte sich, und ich ging rasch durch die Räume. Badezimmer, Küche und schließlich auch das Wohnzimmer fand ich menschenseelenleer vor. Hilal war fort.

  Panik überkam mich, die mich fast zum Hyperventilieren brachte. Ich musste meinen Körper regelrecht dazu zwingen, gleichmäßig zu atmen. Eisige Angst kroch mir den Rücken hinauf. Das würde Stress geben. Adnan würde durchdrehen, wenn er davon erfuhr.

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