Azriel hatte über die vielen Jahrhunderte gelernt bereits die kleinsten Regungen in einem Gesicht zu interpretieren und lesen zu können. Ihm verrieten bereits kleinste Zuckungen und Gesten, wie ein Mensch fühlte.
Er lernte jedes Lächeln zu deuten und in seinen Kern zu interpretieren. So erkannte er oft Lüge von Wahrheit. Nur so hatte er die vielen Jahrhunderte als Spion des High Lords überleben können.
Er selbst hatte für sich oft eine stumme Maske aus Kälte, Schatten und Einsamkeit gewählt, aus der man selten etwas herauslesen konnte. Er hatte seine Gefühle oft im Griff und entschied selbst, was andere von ihm sehen durften.
Doch nun war es ihm zum allerersten Mal egal gewesen, was andere sahen. Sollten sie alle seine Verzweiflung und Ängste sehen. Es war ihm egal.
Sein Herz schlug schwer als die Heilerin ihren Koffer zusammenklappte und von seinem Bett aufstand, auf dem die bewegungslose Ophilie lag. Gut eingepackt in der dicken Daunendecke.
Azriel erkannte ihr Bestürzen und auch das Mitleid für die schöne High Fae in ihrem Gesicht.
„Ihre Wunde ist versorgt." sagte sie leise und zog die Bettdecke bis zu Ophilies Brust hinauf, die Arme legte sie dabei frei, „Aber ihre Leber, vielleicht auch ihre Nieren könnten beschädigt worden sein."
Die Worte wollten für Azriel, der am Ende des Himmelsbettes stand, einfach keine Form annehmen.
Er würde sie verlieren. Seine erste Liebe. Die Frau, die denen seine Brüder und er selbst so viel zu verdanken hatte. Sie würde sterben, weil er sie alleine gelassen hatte.
Azriel wurde das Ausmaß dieser Katastrophe immer bewusster. Wie ein Puzzle, das mit jedem Stück mehr ein Bild ergab. Nur war dieses Bild alles andere als inspirierend oder schön. Es war eine absolute grausame und unwiderrufliche Katastrophe.
Rhysand dagegen, der auf einen alten Holzstuhl neben Ophilie saß, nickte langsam und sichtlich bestürzt. „Wird sie es schaffen?"
Azriel wollte darauf nur eine Antwort hören. Doch der Anblick seiner einstigen Geliebten sprach für sich selbst.
Ihr Gesicht hatte einen kränklichen grauen Ton angenommen. Das lange helle Haar glänzte nicht mehr, sondern lag nur stumpf um ihren Kopf herum. Ihre vollen Lippen waren ausgetrocknet und spröde. Ihr Atem war langsam und schwer.
Der Schattensänger drehte den Kopf leicht von ihr weg und versuchte seine Aufmerksamkeit wieder auf Rhysand und die Heilerin zu lenken.
Die junge Heilerin senkte mitleidig den Kopf. „Das Fieber setzt langsam ein. Sie wird anfangen zu dehydrieren, wenn Ihr ihr nicht ausreichend Flüssigkeit gebt. Ihr Zustand ... ist besorgniserregend schlecht." Dann hob sie den Kopf an - und sah nur Azriel in die Augen als würde sie die Bindung zwischen ihm und Ophilie spüren. „Ich kann Euch nicht sagen, ob sie die Nacht überleben wird. Dafür sind ihre Verletzungen zu groß und das Blut, das sie verloren hat, zu viel gewesen. Wir können nur für sie beten."
Die Welt um Azriel herum begann zu schwanken.
Er hatte Ophilie einige Jahre nicht mehr gesehen. Hatte sie nicht besucht oder hatte sich aus nächster Nähe von ihrem Gesundheitszustand erkundigt.
Und egal wie oft er sich in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten versucht hatte einzureden, dass er mit dieser Fae keine gemeinsame Zukunft hatte, so schwer schlug ihm das Herz jetzt.
So ehrlich und offen, dass er von diesen Gefühlen wohl genauso entsetzt war wie um Ophilies Gesundheitszustand.
Sie lag im Sterben - und er konnte nichts mehr dagegen tun.
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A Court of Fire and Ice | Azriel Fanfiction | Watty 2022 Shortlist
FanfictionSie sollte die erste High Lady werden. Ophilie. Tochter von Beron. Doch ihre Liebe zum Schattensänger Azriel stellte sie vor die Wahl. High Lady über das Herbstreich werden oder gemeinsam mit ihrer Liebe verschwinden und den Titel der High Lady für...