Kapitel 70

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|I Will Follow You into the Dark - Death Cab for Cutie|

⊏Noah⊐

Der Verstand schafft die Wahrheit nicht, sondern er findet sie vor.

Die Wahrheit.
Nackt. Unverziert. Unleugbar.
Und jetzt auch unumkehrbar.

Ich machte den Mund auf, wollte das Gesagte mit einem Witz herunterspielen, wollte diese Verletzlichkeit nicht spüren, da drehte sich Megan um.

Und als ich in ihre Augen sah, lösten sich die Zweifel von mir, so wie eine Rauchwolke aus meinem Mund entfloh.

Sie lächelte, wenn auch nur schemenhaft. Doch es war nicht das Lächeln auf ihrem Mund, das mir den Atem raubte, nein. Es war das, in ihren Augen.

Sie strahlten. Der Gedanke, das ich es war, der sie zum strahlen gebracht hatte erfüllte mich mit dämlicher Genugtuung.

So nah vor ihr, musste ich den Kopf senken, um sie anzusehen. Nervös strich ich die widerspenstigen Strähnen meines Haares aus meinem Blickfeld.

So nah vor ihr, konnte ich die grauen Sprenkel in ihrer Iris erkennen.

So nah vor ihr, roch ich ihren Duft. Er kam über mich, wie eine betörende Wolke und vernebelte meinen Verstand, bis ich dachte, verrückt zu werden.

Wie in Trance, streckte Megan die Hand aus, hielt jedoch vor meinem Gesicht an. Ich spürte eine geisterhafte Berührung auf meiner Unterlippe, als wäre ihr Finger eine Feder. Vielleicht war sie nicht real. Vielleicht wache ich jede Sekunde in meinem Bett auf, den überhitzten Körper in den Laken verheddert. Würde ich ihre Berührung auch spüren, wenn ich wach war?
Denn das hier konnte unmöglich real sein.

In meinem Kopf lief I Will Follow You into the Dark von Death Cab for Cutie, denn fuck, ich würde ihr überallhin folgen.

Ihre Hand strich über meine Wange, hinunter zu meinem Hals, bis hin zu meinem Schlüsselbein, auf dem sich eine verräterische Gänsehaut ausgebreitet hatte.

Eine plötzliche Geräuschkulisse, durchdrang unsere Trance, wie eine Stecknadel einen Ballon durchstach. Laut und unerwartet.

Jemand hatte die Ladentür geöffnet.

Megan rückte von mir ab und ich räusperte mich, konnte meinen Blick jedoch keine Sekunde von ihr abwenden.

Ich beobachtete, wie sie das Buch wieder in die Hände nahm und zögerte, bevor sie beschloss: "Ich kaufe es."

In diesem Moment wirkte sie so real und wunderschön, dass ich nicht einmal versuchte, mein Grinsen zu verstecken.

Als wir schließlich nach draußen auf die Straße traten, hielt Megan die Tasche mit dem Buch an ihre Brust gedrückt und lächelte, als hielte sie einen Lottogewinn in den Händen.

Ich selbst hatte überraschenderweise kein Buch gekauft.
Tatsächlich kam es selten vor, dass ich ein Buchgeschäft ohne ein neues Buch in meiner Tasche verließ.

Aber dieses eine Mal, war ihr Lächeln Grund genug zur Freude.

Ich beobachtete, wie sie dem Strom von Körpern auf Seattles Straßen geschickt auswich und dabei nicht ein einziges Mal stolperte.

"Es ist gleich da vorne", rief sie mir über die Kakophonie von Geräuschen zu, nachdem wir etwa zehn Minuten stadteinwärts gegangen waren. Ich nickte und sah mich um.

Die Gegend war aufgrund ihrer Nähe zur Innenstadt nicht gerade ruhig, ein paar Klamottengeschäfte und Anwaltskanzleien säumten die Straße zu beiden Seiten.

Megan bog in eine Seitenstraße und ich folgte ihr. Dann kam sie vor einem kleinen, rustikalen Café zum Stehen. Der Wind spielte mit ihren Haaren und bewegte das Schild, das über unseren Köpfen hin-und herschwang.

The Everlasting.

"Immerwährend?", fragte ich und nahm die Hände aus den Taschen meines Mantels.

Sie nickte und erwiderte: "Ich habe diesen Laden vor vier Jahren entdeckt, als ich zufällig vorbeigegangen bin. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, ich wollte nur einen Laden für Schreibwaren suchen, ich scheine immer zu wenige Kugelschreiber zu haben. Ich habe das Kleine Café gesehen und mich auf der Stelle in es verliebt. Die haben da so einen Dark Chocolate Mocha, weißt du?"

Ihr Blick wirkte verträumt und ich grinste.

Drinnen roch es nach Vanille und Zimt und Geborgenheit.

Es gab mehrere kleine abgetrennte Nischen mit Bänken, die mit einem flauschigem Überzug bedeckt waren. Etliche Kerzen verstärkten die schummrige Atmosphäre und so zogen ab und an die Schatten sich bewegender Personen über die Wände.

Megan steuerte geradewegs auf die kleine Bar auf einer Seite des Cafés zu, hinter der ein großer, etwa fünfzigjähriger Mann mit struppigem, in einen Pferdeschwanz gesteckten roten Haar und gütigen Augen stand. Als dieser Megan auf halbem Weg erblickte, breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus.

Er wirkte wie ein sanftmütiger Mann, die Sorte, die vermutlich weinte, wenn sie aus Versehen eine Ameise auf dem Bürgersteig zertrat.

Besagte Person kam hinter dem Tresen hervor und breitete die Arme aus. "Megan, meine Liebe! Wie geht es dir? Möchtest du einen Kaffee? Oder einen Karottenkuchen?"

Ich kam nicht umhin das Gesicht zu verziehen. Karottenkuchen?
Trotz der offenbar fragwürdigen Auswahl an Speisen, musste ich einräumen, dass der Mann doch ziemlich sympathisch wirkte.

Gerade als ich das dachte, fiel sein Blick auf mich und er musterte mich von oben bis unten.

Ich tat mein bestes und sagte: "Hallo, das ist ein wirklich sehr schöner Laden, den Sie hier haben. Es wundert mich, dass ich noch nie etwas von ihm gehört habe."

Der Mann lächelte und bedankte sich überschwänglich. "Noah, das ist Pete, er macht den besten Kaffee der Stadt. Pete, das ist Noah, er ist-", sie stockte.

Ich begegnete ihrem Blick und sah die Gefühle, die in ihren Augen wirbelten. "Naja egal, jedenfalls habe ich ihm von deinem Laden erzählt und...hier sind wir." Megan fuhr sich durch ihr Haar, wedelte in der Luft zwischen uns hin und her, plötzlich wirkte sie unsicher.

Pete betrachtete mich nun doch etwas ausgiebiger. "So so, Noah also? Naja, willkommen im Everlasting, was kann ich Gutes für dich tun? Du siehst aus, als wärest du eher ein Bananenbrot-Mensch."

Ich stockte, in meinen Lungen war plötzlich zu wenig Sauerstoff, als wäre er auf einmal herausgepresst worden.

"Ich bin dein Vater, natürlich weiß ich, dass du keine Bonbons magst!Deshalb habe ich dir Bananenbrot mitgebracht, mein kleiner Dichter braucht schließlich Energie, damit sein Köpfchen nicht die Arbeit einstellt."

"Noah?"

Meine Hände zitterten und mein Herz hämmerte gegen meine Brust, so laut, dass ich mir sicher war, sie würden es hören.

"Bestell schon einmal ohne mich, ja? Ich gehe kurz nach draußen, ich habe ganz vergessen, meine Mutter zu fragen, ob sie für morgen noch Lebensmittel braucht. Vielleicht muss ich nachher noch einkaufen fahren."

Mein Gemurmel ergab nicht im entferntesten Sinn, doch das war mir gerade ziemlich egal.

Ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, sagte dann: "Ich nehme einen Kaffee, schwarz, danke."

Mit diesen Worten durchquerte ich den Laden und gab mir allergrößte Mühe, es nicht so aussehen zu lassen, als würde ich davonrennen.

Noooo, Noah, don't run from your problems!

Broken Souls - Gebrochene SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt