Kapitel 72

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|Love Grows (Where My Rosemary Goes) - Edison Lighthouse|

⊏Megan⊐

Als Noah das sagte, war mein erster Gedanke: ich will seine Gedichte lesen.

Aber das wäre zu früh, ein zu großer Eingriff in seine Privatsphäre.

Eines Tages, versprach ich mir. Eines Tages werde ich seine Worte auf Papier ansehen und sie in mich aufnehmen, wie ein Schwamm das Wasser aufnimmt. Und dann würde ich sie in mir verschließen, den Schlüssel wegwerfen und sie wie einen Schatz hüten.

Er hatte nach Rauch gerochen, als er vorher wiedergekommen war, aber er hatte auch nach Schmerz gerochen. Alles an ihm hatte geschrien. Die dunklen, moosgrünen Augen, seine sorgfältig in die Taschen seines Mantels gesteckten Hände. Seine verschlossene Miene.

Er hatte verletzt ausgesehen, tat es noch immer, auch wenn der Schmerz jetzt wieder in ihm eingeschlossen war. Als hätte er ihn aufgeklaubt und zurück in seinen Körper geworfen.

Ich wollte ihn schütteln, ihn fragen, weshalb er eine solche Gleichgültigkeit gegenüber seinen eigenen Gefühlen hegte. Später. Irgendwann, wenn er nicht so verletzlich aussieht.

Irgendwann, bald, eines Tages.
Als wir schließlich aus dem Laden traten, blieb Noah stehen und wandte sich um, betrachtete das Schild.

"Dieser Laden ist wirklich klasse."
Ich lächelte. "Hab ich doch gesagt!"

Er erwiderte mein Lächeln und seine Augen leuchteten. Dann sah ich auf die Uhr und verzog den Mund.

Es wahr beinahe halb fünf und ich fühlte mich nicht bereit in den Laden zu gehen und gehetzten Kunden die Mandelmilch und den laktosefreien Käse zu zeigen.

"Vielleicht sollte ich anrufen, sagen, dass ich heute nicht kann."

Noah legte den Kopf schief. "Ist es das, was du willst?", es lag keinerlei Wertung in seiner Stimme, es war nur eine Entscheidung, die ich selbst treffen würde. Das warme Gefühl in meiner Brust war zurück.

"Ja", sagte ich einen Tick zu leise.
Ich räusperte mich, dann entschied ich lauter: "Ja, das ist es, was ich will."

Zehn Minuten und einen kurzen Anruf später, standen wir in der nie endenden Schlange des Seattle Art Museums. Normalerweise schloss das Museum um fünf, heute jedoch, schien eine Art Nacht der Museen stattzufinden, weshalb es bis spät in die Nacht Besucher empfing.

Vor dem Gebäude stand eine übergroße schwarze Statue eines Mannes, der einen Hammer gegen ein symbolisches Werkstück schlug. Die Bewegung des Hammers selbst war motorgetrieben, so dass keine schnelle Hämmerbewegung entstand, sondern der Hammer genauso langsam gegen das Werkstück bewegt wurde, wie er gehoben wurde.

Das Kunstwerk hieß Hammering Man.

Es galt als Symbol für die Arbeit, die Tat und auch als Symbol für die Solidarität mit allen Menschen, die arbeiteten.

Ich dachte an meine Mutter, die tagein tagaus in der Bäckerei stand und eine Doppelschicht nach der anderen schob, um mir ein gutes Leben zu ermöglichen.

Drinnen war alles hell und groß. Menschenmassen drängelten sich an den Ticketschaltern. Über unseren Köpfen baumelte ein riesiges, in mehrere kleine Teile getrenntes Kunstwerk mit dem Namen Middle Fork.

Ich wusste nicht viel über es, aber ich hatte gehört, dass es dank der Hilfe Freiwilliger hier ausgestellt war.

Ich hatte mein ganzes Leben in Seattle verbracht, natürlich hatte ich das Museum schon besucht. Meine soziologieinteressierte Seite hatte Stunden damit zugebracht, die zahlreichen, sich stetig erneuernden Ausstellungsstücke über den Bereich der sozialen Ungleichheit und dessen Probleme zu bestaunen. Es war ein Thema, das mir sehr wichtig war, unnötig zu erwähnen, dass ich mich insgeheim selbst eines ihrer Opfer nannte. Nicht um mich selbst zu bemitleiden, nein. Sondern um mir in Erinnerung zu rufen, dass es gute Leute gab. Leute, die mit offenen Armen und offenen Augen und mit Köpfen voller Ideen durch die Welt gingen.

Das Museum setzte sich für Künstler in schwierigen Lebenssituationen ein.
Sonderbeauftragte des Museums suchten stets nach neuen Menschen, die eine Chance auf ein besseres Leben verdient hatten. Für viele der Künstler war es die Chance ihres Lebens und auch oft ein Weg aus der Aussichtslosigkeit.

Das Engagement, mit welchem sich die Leute hier um ihre Mitmenschen kümmerten, faszinierte mich jedesmal aufs Neue.

Als ich Noah das erzählte, lächelte er und nickte. "Ehrlich gesagt wollte ich hier schon immer einmal hin", gestand er dann und reichte mir mein Ticket. Als Studenten, waren die Preise zwar ermäßigt, trotzdem waren es immer noch 13 Dollar.

Noah hatte meine verkniffene Miene bemerkt, so wie er alles zu bemerken schien und in vorsichtigem Ton angeboten, es für mich mit zu bezahlen.

"Ich brauche keine Almosen, danke."

Entgegen meiner Erwartungen, war Noah meinem Blick nicht ausgewichen, als er erwidert hatte: "Ich würde es eher als Bestechungsgeld bezeichnen. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse und glaub mir, wenn du mit mir ein Kunstmuseum besuchst, brauchst du einen kleinen Anreiz um wenigstens noch bis zum zweiten Stock zu gelangen und nicht gleich schreiend wegzurennen, weil ich nicht aufhöre über die Kunst zu philosophieren."

Einen Moment starrte ich in sein ernstes Gesicht. Dann brach ein Lachen aus mir hervor, zu laut, zu echt. Nach einer Weile musste ich mir den Bauch halten und mich zwingen, gleichmäßig zu atmen um mich wieder zu beruhigen.

Noah hatte das ganze mit vollkommen verwirrter Miene beobachtet und hob eine Augenbraue, während ich noch nach Luft rang.

"Was?"

Ich hatte seinen Arm ergriffen und ihn in Richtung der Ticketschalter gezogen.

"Abgemacht. Ach, und Noah?"

Er hatte den Kopf in meine Richtung gedreht und gefragt: "Ja?"

"Bitte rede soviel du willst, wenn ich will, dass du aufhörst, dann sage ich es dir, okay?" Ich würde ihn niemals bitten aufzuhören über etwas zu reden, was ihm offenbar wichtig war, aber das behielt ich für mich.

Nächste Woche kommt vermutlich kein Update, weil ich viel für die Schule machen muss.

Broken Souls - Gebrochene SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt