Kapitel 92

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|Smoke - Daughter|
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⊏Noah⊐

"Vertrauen ist ein äußerst wichtiger Teil der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Vertrauen, welches oft durch den Aufbau einer Beziehung oder eines Gefühls des Verständnisses oder der Empathie aufgebaut wird. Trotzdem ist nicht jede Beziehung gleich die richtige. Meine Ausbildung, Erfahrung, Techniken und Kenntnisse sind nicht für jeden Patienten geeignet. Eine Therapie ist für den Patienten oft absichtlich unangenehm, um ihm zu helfen, problematische Aspekte seiner Erinnerungen oder Gedanken in einem sicheren Raum zu erforschen. Mangelt es jedoch an Vertrauen oder sind Angst, Unbehagen oder Groll vorhanden liegt es nicht in meiner Kraft dem Patienten zu helfen."

Evelyn hatte die Beine übereinandergeschlagen und lenkte meine Aufmerksamkeit damit unweigerlich auf ihre plüschigen Hausschuhe.

Sie saß wieder in dem Sessel, während ich neben Jamie auf der Couch Platz genommen hatte.

Jamie schwieg eine lange Zeit, bevor er nachdenklich erwiderte: "Da wo ich herkomme werden Seelenklemtner mit Schwäche assoziiert. Wussten Sie, dass die meisten Studien, in denen es um die Wirksamkeit von Psychotherapie geht, die Fakten gelinde gesagt etwas zu rosig ausdrücken? Kleine Studien vermelden oft Erfolge, die sich in großen Untersuchungen nicht bestätigen lassen. Negative Ergebnisse werden fast gar nicht veröffentlicht. Und die Statistik zeigt: Wenn ein Vertreter einer bestimmten Psychotherapieform die Studie selbst durchführte, erscheint sie deutlich wirksamer, als wenn andere das tun. Nur weniger als zehn Prozent der untersuchten 250 Studien zeigten keine dieser Verzerrungen."

"Der Erfolg einer Psychotherapie hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Einer davon ist die Person des Psychotherapeuten", nach einer kurzen Pause, fügt sie langsam hinzu: "ebenso spielt die Einstellung des Patienten eine wichtige Rolle. Ist er bereit, über Dinge, Ereignisse zu reden, sie zu erörtern, zu vertrauen."

"Meine Einstellung hierzu sollte eindeutig sein. Ich säße nicht in diesem Raum, hätte ich nicht die bewusste Entscheidung getroffen, hierher zu kommen."

Als Evelyn ihn nur abwartend betrachtet, seufzt Jamie.
"Was wollen Sie von mir hören? Erwarten Sie, dass ich einfach so meine gesamte Lebensgeschichte vor ihnen ausbreite, damit Sie mir sagen können, was ich hätte besser machen sollen? Welche Entscheidung falsch war? Wenn das der Fall ist, dann muss ich sie leider enttäuschen."

Es folgte ein langer Moment des Schweigens, indem Jamie seine Augen wieder auf das Fenster hinter Evelyn richtete.
Er sah oft dort hin.

"Ich möchte, dass Sie wissen, dass dies ein vertrauliches Gespräch ist und ich Sie niemals, zu keinem Zeitpunkt, aufhalten werde diesen Raum zu verlassen. Sie sind, wie bereits von Ihnen erwähnt, freiwillig hier."

Als Jamie daraufhin nichts erwiderte, fragte sie: "Können Sie mir sagen, weshalb Sie derart angespannt sind?"

Überrascht wandte ich den Kopf zur Seite und sah Jamie an.

Tatsächlich. Auf den ersten Blick schien er gelangweilt, doch je länger ich hinsah, desto mehr kleine Details fielen mir auf.

Er saß aufrecht da, die Füße fest in den Boden gestemmt, seine Hände lagen übereinander in seinem Schoß. In dieser Position hätte ich beinahe übersehen, wie fest er seine Hände ineinander verschränkt hatte.

Jamies Antwort darauf war knapp und unmissverständlich: "Nein."

Als Evelyn schließlich nickte, schien etwas von der Anspannung von Jamie abzufallen.

"Wie haben Sie sich in Seattle eingelebt? Haben Sie bereits Freunde gefunden?"

Jamie zuckte mit den Schultern und ich dachte schon, er würde gar nichts mehr sagen, überraschte mich dann jedoch.

"Die Menschen hier verhalten sich anders als Zuhause. Sie lächeln und stellen Fragen und auch wenn sich einige mit den Antworten zufriedengeben, die sie bekommen, scheinen es manch andere nicht zu verstehen."

Scheinen was nicht zu verstehen? Wollte ich fragen. Doch Evelyn warf mir einen warnenden Blick zu.

Ich war mir sicher, dass Jamie den Blick auch bemerkt hatte, so wie er alles bemerkte, doch er sagte nichts dazu.

"Es fällt Ihnen also schwer, persönliche Informationen mit fremden Menschen zu teilen?", fragte sie nachdenklich, während sie etwas in ein blaues Notizbuch kritzelte. Das Cover war mit Ananassen verziert. Der Anblick verwirrte mich.

In Filmen, saßen Therapeuten immer mit langweiligen, grauen Klemmbrettern auf einem unbequemen Stuhl.

Der Therapeut, den ich vor Jahren aufgrund meiner Schlaflosigkeit konsultiert hatte, hatte jedenfalls so eines gehabt.

Jamie zögerte, als hätte er zu viel gesagt. Als er keine Anstalten machte, ihre Frage zu beantworten, fuhr sie fort: "Sie haben gesagt, die Menschen hier wären anders als Zuhause, könnten Sie das ein wenig ausführen."

Jamies Gesicht blieb ausdruckslos, die Augen auf Evelyn gerichtet, als er erwiderte: "Dort wo ich großgeworden bin, kannten Kinder die besten Dealer mit den billigsten Preisen noch bevor sie die erste Mathefunktion berechnen konnten."

Das unausgesprochne ich auch schwebte im Raum und wir alle drei waren uns dessen bewusst.

"Und das tun sie hier nicht?", fragte Evelyn.

"Doch. Aber hier ist es einfacher, fernzubleiben."

Evelyn nickte verstehend, bevor ihre Augen zu mir wanderten.

"Noah, hatten Sie selbst je persönlich ein Problem mit Alkohol oder Rauschmittel?"

Jamie zuckte zusammen. "Ich habe kein-"
Ich schnitt ihm das Wort ab. "Nein, das hatte ich nicht."

"Er raucht", schoss Jamie zurück.
Ich nickte. "Ja, das stimmt."

Evelyns Blick kehrte zu Jamie zurück: "Rauchen Sie?", fragte sie ihn.
Dieser schüttelte den Kopf und fügte leise hinzu: "Keine Zigaretten, nein."

"Gibt es in ihrem Umfeld jemanden, der diesen Lastern zugeneigt ist?", Evelyns Frage traf mich unerwartet.
"Ich...nein. Früher einmal. Jetzt nicht mehr."

Ich erwartete schon, sie würde weiter nachfragen, doch das tat sie nicht.

"Das ist gut. Personen mit Jamies Hintergrund, suchen oft unbewusst nach dem Umfeld, das sie eigentlich verlassen wollten und fallen dann schnell in alte Muster zurück."

Unwillkürlich fragte ich mich, wie viel sie über Jamies Vergangenheit wusste. Wusste sie von seinem Vater, hatte sie es sich vermutlich zusammengereimt? Was stand in seiner Akte?
Ich wusste es nicht.

Was ich jedoch wusste war, dass ich Jamie nicht allein lassen würde. Denn er war bereits von zu vielen Menschen in seinem Leben enttäuscht worden.

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Broken Souls - Gebrochene SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt