Kapitel 67

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|Until We Die - Gentle Bones|

⊏Megan⊐

Noah: Kennst du das, wenn man sich wünscht einen Abend, eine Erinnerung für immer einfrieren zu können, um sie dann in schlechten Zeiten hervorzuholen um sich an das Glück und das Licht zu erinnern?
Jedenfalls habe ich diesen Abend im Lokal eingefroren, weißt du?

Ich starrte auf die Nachricht. Es war später Abend, ich saß an Christinas Esstisch und hatte Siddhartha, eine indische Dichtung von Herman Hesse vor mir aufgeschlagen. Das Buch war eine Pflichtlektüre in meinem Ethik Kurs. Der Einband des dünnen blauen Buches zeigte eine Buddha Statue.

Ich hatte es fast fertig gelesen und es steckte viel zu viel Wahrheit in diesem Buch. Gerade blätterte ich durch die Seiten um noch mehr Notizen und Gedanken auf ein ohnehin bereits mit Worten angefüllten Blatt zu schreiben. Das Buch handelte von der Selbstbefreiung eines jungen Menschen aus familiärer und gesellschaftlicher Fremdbestimmung zu einem selbständigen Leben.

Die vorher sterilen, weißen Seiten waren jetzt voller an den Rand gekritzelter Meinungen und Kommentaren von meiner Wenigkeit. Ich hatte ganze Passagen rausgeschrieben, hatte Post-its auf die Seiten und Marker an den Rand geklebt.

Und weil ich gerade ein eigenartiges Hochgefühl verspürte, schickte ich ein Bild des Covers an Noah und schrieb: lesen macht ja tatsächlich Spaß! Wieso hast du mir das nicht früher gesagt?!

Seine Antwort kam einige Minuten später.

Noah: Weisheit ist nicht mitteilbar. Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit. (...) Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.

Ich: bitte sag mir, dass du das gerade nicht aus dem Gedächtnis zitiert hast.

Noah: Ich nicht, Jamie schon.

Ich lachte. Christina, die hinter ihrem eigenen Laptop saß, warf mir einen Blick zu.

Ich sah wieder auf das Handy.
Noah: Was machst du morgen nach der Schule?

Mein Herz stellte komische Sachen in meiner Brust an während ich die Nachricht anstarrte. Es flatterte, fühlte sich ganz leicht an, wie eine Feder.

Ich: Ich muss um 17 Uhr zu meiner Schicht im Rose In.

Nach einer kurzen Pause erschien eine neue Nachricht auf dem Bildschirm.

Noah: Davor könnte ich dir meinen Lieblingsort zeigen.

Ich: Vertauscht du da nicht etwas? Müsste nicht eigentlich ICH, die Person, die ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hat nebenbei bemerkt, DIR die besten Plätze hier zeigen?

Noah: Welchen Ort würdest du mir zeigen wollen?

Ich: Das siehst du morgen.

Das ich wie verrückt grinste, merkte ich erst als meine Wangen anfingen wehzutun, weil das Lächeln mein Gesicht nicht verlassen wollte. Wenn Christina meine für sie vermutlich unerklärliche heitere Stimmung aufgefallen war, hatte sie wohl beschlossen, ihre Worte für sich zu behalten.

Ich lehnte mich wieder über meinen Notizzettel und schrieb: Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht.

Mein Handy vibrierte erneut und halb erwartete ich, dass es meine Mutter war, die mir mitteilte, dass sie heute bei Paul schlafen würde, ich freute mich für sie. Paul war ein netter Typ.

Demgemäß war ich umso überraschter, Noahs Namen ein weiteres Mal zu erblicken.

Er hatte mir ein Foto geschickt, auf dem der Teil eines Buchcovers abgebildet war, der Titel lautete: On Earth We're Briefly Gorgeous. Er hatte es an seine Brust gedrückt, wie einen Schatz, und neben ihm erblickte ich Jamie. Jamie hatte den Blick auf ein dickes Buch gesenkt, das aussah wie ein Medizinfachbuch- wenn man meiner Vermutung  als Leihe Glauben schenken wollte. Meine Aufmerksamkeit richtete sich wie von alleine auf Noahs Brust. Das fast durchsichtige, weiße T-Shirt überließ nichts der Fantasie. Sein muskulöser Unterarm hielt das Buch an seine Brust gedrückt.

Unter dem Bild stand:
Ein weiterer Abend mit einem Einsiedler und einem Langweiler. Nichtstun ist eine Kunstrichtung in der Jamie und ich ums Verrecken nicht über das Stadium von  Strichmännchenmalen kommen. Wenigstens weiß ich jetzt, dass irgendwo dort draußen ein anderer Workoholic sitzt, mit Augenringen so tief wie die Schlucht des Himalaya und wunderschön aussieht.

Dieses Mal lachte ich laut.
Ich las die Nachricht noch einmal und fühlte ein dumpfes Pochen in mir, es war, als hätte meine Seele einen Puls bekommen. Als streckte sie sich aus. Sehnsuchtsvoll, als misste sie etwas. Eine Berührung, ein anderes Herz, das sie umhüllen konnte. Zusammen mit einer anderen Seele.

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Broken Souls - Gebrochene SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt