Kapitel 42

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|iRobot - Jon Bellion|

⊏Noah⊐

Hallo Pride,
Ja, ich denke sehr wohl das jeder einzelne Mensch einen freien Willen besitzt. Ob sich jeder dessen bewusst ist lasse ich an dieser Stelle einmal außer Acht. Wir treffen tagtäglich Entscheidungen. Entscheidung in vollem Bewusstsein um die Konsequenzen. Es sind immer unsere Entscheidungen, ganz gleich wie viel Einfluss Außenstehende auf sie haben. Aber hier eine andere Frage:
Was hältst du eigentlich von Musik?

Denkst du ein Mensch kann sich allein durch seine bevorzugte Musik definieren?
Bist du eine der Personen für die Musik lediglich eine lästige Störung, eine Ablenkung bedeutet? Oder ist Musik mehr für dich? Und wenn ja, wie viel mehr? Begleitet sie dich auf deinem Weg? Hast du ein Lieblingslied? Eine Lieblingsband?
Suchst du deine Musik passend zu deiner Stimmung aus oder passt du deine Stimmung dem Song an? Hörst du querbeet? Eine Richtung die du nicht magst? Hältst du dich an die angesagten Lieder oder hast du deine ganz persönliche Playlist? Verbindest du bestimmte Momente mit bestimmten Liedern?
Faith

Aus der Stereoanlage drang Save That Shit von Lil Peep und ich runzelte nachdenklich die Augenbrauen. Ohne Frage hatte Jamie wieder einmal das Surround System in Beschlag genommen. Ich wandte den Kopf und betrachtete ihn. Den Kopf gesenkt hantierte er an seinem Handy herum. Dabei nickte er im Takt mit dem Kopf.

Denkst du ein Mensch kann sich nur durch seine bevorzugte Musik definieren?

"Wenn du vor hast mich weiter so nachdenklich anzustarren muss ich dich leider enttäuschen, ich bin kein Kunstwerk. Obwohl einige meiner Teile durchaus in ein Museum gehören." Ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen wackelte Jamie vielsagend mit den Augenbrauen. Ich verdrehte die Augen. "Ich habe nur gerade mit dem Gedanken gespielt dir meinen Spotify- Zugang wieder wegzunehmen." Gespielt beleidigt schob Jamie die Unterlippe vor und setzte einen derart unschuldigen Gesichtsausdruck auf das ich fast gelacht hätte.

Das Lied wechselte und Serotonin von Call Me Karizma drang aus den in die Wand eingelassenen Boxen und erfüllte das ganze Haus. Ich verzog den Mund. So ziemlich jede Strophe spiegelte beunruhigend genau Jamies Leben wieder. Mit einem mal war meine Kehle ganz trocken und ich kippte den Inhalt meines Weinglases herunter als beinhalte es Wasser und nicht Wein. Als ich es wieder absetzte erhaschte ich einen kurzen Blick auf Jamie. Er starrte das nun beinahe leere Glas derart intensiv an das ich augenblicklich ein schlechtes Gewissen bekam.

Ja, Jamie war trocken und das meines Wissens schon seit einem Jahr. Doch bedeutete das nicht das er nicht mit einer Sucht zu kämpfen hatte. Er hatte mir einmal gestanden das er Alkohol dem Graß vorzöge, wegen der Taubheit die exzessiver Alkoholkonsum mit sich brachte. Die Taubheit, hatte er gesagt, sei es, nach der so gut wie jeder dem Alkohol oder sonstigen lasterhaften Vergnügungen zugetane Mensch suche. Sie lege sich wie eine schwere Decke aus Nebel um einen. Vertrieb die Sorgen, vergrub sie unter einer dicken Schicht aus Gleichgültigkeit.

"Wie sehen deine Pläne für morgen Abend aus?", ich schlug absichtlich einen unbekümmerten Ton an. Als Jamie mit den Schultern zuckte grinste ich. "Warum fragst du?" "Weil wir morgen auf eine Party gehen werden."

Jetzt hob Jamie eine Augenbraue. "Denkst du das es eine gute Idee ist mich auf Nathans Geburtstagsparty mitzunehmen?" Offenbar hatte er schon davon gehört. Er ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen und mir fiel auf das er mit der einen Hand sein Handy umklammert hielt. Ich trommelte mit den Fingerspitzen auf die Kante des dunkelbraunen Eichenholztisches. Jamie fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

"Das denke ich nicht, aber es wäre mir lieber wenn du in meiner Anwesenheit diesen..", ich zögerte, drehte den Kopf und sah aus dem Fenster. Es regnete. "Verlockungen ausgesetzt werden würdest." Aus dem Augenwinkel sah ich wie er die Augen verdrehte doch ich ließ mich nicht beirren. "Ich bin nicht deine Mutter aber ich werde nicht tatenlos dabei zusehen wie du dich selbst zerstörst." Bei meinen Worten zuckte Jamie zusammen. Die Ironie dieser Aussage war mir nicht entgangen. Ich seufzte.
Etwas dunkles, bedrohliches glitt über Jamies Gesicht. Ein Blinzeln und es war verschwunden.

Mein Handy vibrierte. Ich warf einen Blick darauf, es war Cyril. Ich runzelte die Augenbrauen. Entgegen meines Versprechens Megan gegenüber hatte ich bis jetzt weder mit ihm geredet noch mich bei ihm entschuldigt. Nach einem weiteren Blick zu Jamie griff ich nach meinem Glas und ging aus dem Zimmer.
Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Dann blieb ich in der Mitte meines Zimmers stehen und starrte auf die Briefe von Pride.
"Noah?"
Ich fuhr mir durch die Haare und atmete geräuschvoll aus. "Hey Cyril..wie gehts dir?" Okay die Frage war so ziemlich das dümmste das ich sagen hätte können. Aber ich fühlte mich.. schuldig und ich mochte es nicht.
"Ganz gut, denke ich. Wie geht es dir?", kam die kurze Antwort. Seine Stimme klang schuldbewusst. Offenbar hatte er sich soeben einige Sachen zusammengereimt, die ich ihm nicht sagen wollte.
"Mir gehts gut." Ich hatte genug vom dünnschichtigen Smalltalk. "Hör mal", begann ich zögerlich, "es tut mir wirklich leid wie ich mich Montag verhalten habe, ich war gerade so aufgewühlt wegen Jamies Situation. Dann bist du aufgetaucht und ich habe meinen ganzen Ärger und Frust an dir ausgelassen. An dir der du mich zuvor mit von mir unbeantworteten Nachrichten und Anrufen überschüttet hattest weil du dir einfach Sorgen gemacht hast. Und ich, ganz das Arschloch das ich nun einmal bin habe dich ignoriert, habe dich sozusagen auf die Warteliste gesetzt." Es entstand eine kleine Pause in der ich mich auf mein Bett sinken ließ. Ich rollte meinen Kopf im Nacken hin und her und meine Halswirbel knackten.
"Es tut mir leid", beteuerte ich ein weiteres mal.
Cyril schwieg eine Weile dann fragte er: "Wie gehts dir? Es war bestimmt eine anstrengende Woche für dich." Ich nahm das Handy von meinem Ohr und starrte einen Moment ungläubig auf das Display. "Mit mir ist alles okay, ich bin's gewöhnt."
Eine Pause.
"Was meinst du damit?" Ich presste Daumen und Zeigefinger gegen meine Nasenwurzel. Ich überlegte die Frage einfach zu übergehen, sie zu ignorieren. Oder sie mit einem einfachem Nichts abzustempeln. Doch was letztendlich von mir kam war: "An dem Tag, als du vor meiner Tür standest habe ich die Tage davor nicht geschlafen."
Schweigen.
"Was meinst du mit die Tage?"
Ich seufzte, wollte schon das Thema wechseln, als Cyril in schärferem Ton fragte: "Noah, schläfst du öfter ganze Nächte hinter einander nicht?"
Ich wollte auflegen, es abstreiten, vielleicht einen handfesten Streit vom Zaun brechen, aber wir hatten uns gerade wieder vertragen.

"Möglich", sagte ich wage und schaffte es desinteressiert zu klingen. Ich fuhr mir durch die Haare und betrachtete die Briefe auf meinem Tisch.

Cyril musste wohl gemerkt haben das ich nicht weiter über dieses Thema reden würde denn er fragte: "Gehst du morgen auf Nathans Party?"
Ich stöhnte entnervt auf. "Ja, und ich bringe Jamie mit." Einen Moment überlegte ich, Cyril von Jamies Alkoholproblemen und all den anderen Problemen zu erzählen, die meinem Freund so sehr zu schaffen machten, aber das stand mir nicht zu.
Wir redeten noch etwa zwei Minuten bevor ich ein leises Hintergrundgeräusch vernahm und gleich darauf Christinas Stimme aus dem Hörer zu mir drang. "Hey Babe, habt ihr euch ausgesprochen?" Cyril räusperte sich und ich kramte nach meinen Kippen.
Als ich sie schließlich fand, drang wieder Cyrils Stimme aus dem Telefon. "Okay also, war schön mit dir zu quatschen aber Christina ist gerade angekommen und ich wollte ihr noch-", ich unterbrach ihn bevor er irgendwelche Details über ihr Vorhaben weiter vertiefen konnte.

"Klar schon okay, wir sehen uns morgen. Viel Spaß noch."
Ich legte auf bevor er widersprechen konnte und ließ mich in mein Bett sinken. Während ich an die Zimmerdecke starrte überkam mich plötzlich der Drang zu schreiben. Ich hatte schon seit einigen Wochen nichts wirklich Gutes zu Papier gebracht. Einmal abgesehen von Prides Briefen. Ich erhob mich mit dem fast leeren Weinglas in der Hand und der unangezündeten Zigarette zwischen den Lippen und setzte mich an den Schreibtisch.
Meine Augen glitten kurz über die Briefe. Dann bückte ich mich und zog ein unbeschriebenes Blatt aus dem Stapel.
Die Zigarette klemmte ich mir gedankenverloren hinter mein Ohr.

Broken Souls - Gebrochene SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt