1 - Kuss

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Ellie

Ich öffne die Augen, als sich Noah meinem Kuss entzieht. Erst jetzt nehme ich das Gegröle der Jungs wahr und ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Wenn es eins gibt, das ich gar nicht abhaben kann, dann Typen, die sich an einem Kuss zwischen zwei Mädchen aufgeilen.

"Die Show ist vorbei", rufe ich, mehr genervt als beschämt. Alle Augen sind auf uns gerichtet.

"Hey, was ist denn hier los?", höre ich die Stimme meines Bruders. Er durchbricht den Kreis aus Jungs, der sich um uns herum auf Kissen, dem Sofa, und dem Boden niedergelassen hat, und sieht erst Noah, dann mich an. "Oh, hab ich was verpasst?" Er lacht, als er meinen Blick sieht und schaut in die Runde.

"Heiße Lesbenaction", sagt einer seiner Collegefreunde und zieht die Augenbrauen hoch.

"Halt's Maul", sage ich. "David, es war - nichts. Deine Freunde sind komplett bescheuert."

"Also nur das Übliche." David lacht und drängt sich zwischen Noah und mich. Er legt uns einen Arm um die Schulter. "Dann bin ich ja gerade zum falschen Zeitpunkt gekommen." Er überlegt für einen Moment. "Obwohl, meine Schwester und küssen - ne, lass mal." Er drückt Noah einen Kuss auf die Wange. "Bei dir alles in Ordnung, Maus?"

"Alles tutti", sagt Noah. Zum ersten Mal seit dem Kuss treffen sich unsere Blicke. Sie schaut direkt wieder weg. Blöde Hete. Es war nicht meine Idee, will ich ihr am liebsten sagen. Ich hab genug davon, dass sie – oder irgendjemand anderes, wenn wir schon dabei sind – mich als übergriffige Lesbe sieht. Sie hätte mich nicht küssen müssen.

Noah hat sich jetzt zu David umgedreht und sich in seine Umarmung gezogen. Natürlich küsst sie ihn, sie möchte ja nicht, dass irgendjemand in dieser Runde Zweifel daran hat, dass er ihr Freund ist, dass die beiden so wahnsinnig verliebt sind. Es ist das erste Mal, dass seine Freunde seine Freundin kennenlernen, und da möchte sie wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Bei mir hat sie das auf jeden Fall.

"Tut mir Leid, was ich eben gesagt habe", tippe ich in mein Handy. Vielleicht tut es mir das wirklich. Ina antwortet mir sofort: "Woher der plötzliche Sinneswandel?" und dann: "Ich bin immer noch sauer." Ich seufze. Ich habe es nicht anders erwartet. "Das ist okay", schreibe ich zurück, "Kann ich vorbei kommen?" Ich kenne ihre Antwort, schon bevor das Ja auf meinem Handy aufleuchtet.


Noah

Es war eine doofe Idee, heute mitzukommen. Echt saublöd. In meinem peripheren Sehfeld kann ich erkennen, wie Ellie aufsteht. Ich ziehe David näher an mich heran, vergrabe mein Gesicht in der Stelle zwischen seinem Hals und seiner Schulter.

"Ich will nach Hause", flüstere ich ihm zu. "Jetzt schon?", fragt David. Er sieht nicht verärgert aus, nur überrascht. "Es ist erst halb eins. Und ich kann dich nicht fahren."

Er hat getrunken, das haben sie alle. Vielleicht hätte ich mittrinken sollen. Vielleicht ginge es mir dann in diesem Moment ein bisschen weniger miserabel.

"Ist egal, ich gehe zu Fuß." Ich drücke ihm einen Kuss auf die Schulter und löse mich aus seiner Umarmung. Er hält mich an der Hand zurück: "Hey, was ist denn los? Hast du keinen Spaß?" Ich zucke mit den Schultern.

"Deine Freunde sind nett", sage ich in Ermangelung einer besseren Alternative. Ehrlich gesagt habe ich kaum etwas von seinen Freunden mitbekommen, aber es wird bestimmt noch reichlich Gelegenheiten dafür geben. Ich bin mir sicher, sie sind nett, also ist es nicht einmal eine Lüge. "Ich bin nur- das ist mir alles ein bisschen- ich bin einfach müde, okay?" Ich seufze. "Tut mir Leid."

"Liegt es an diesem doofen Spiel?" David runzelt die Stirn. "Hey, wenn du magst kann ich nochmal mit Ellie-"

"Nein!" Ich antworte eine Spur zu scharf. "Nein, alles gut, wirklich. Mir geht's gut."

David sieht aus, als wolle er etwas sagen, aber er hält sich zurück. "Okay", sagt er schließlich und steht mit mir auf. "Soll ich mit dir gehen?"

"Bring mich nur zur Tür." Ich drücke seine Hand. Einer von Davids Freunden hält ihn an der Schulter zurück: "Hey, geht ihr schon?" Sein Blick schwenkt zu mir, aber David ignoriert es. "Ich bin sofort wieder da", entgegnet er und klopft seinem Freund auf die Schulter, "Versucht, mich nicht allzu sehr zu vermissen."

"Würde mir nie einfallen." Der Freund grölt und dreht sich wieder um.

Tut mir Leid, versuche ich, David telepathisch zu signalisieren. Ich weiß, dass ich mich doof verhalte. Ich bin die Spaßbremse. Ich ziehe mir meine Jacke über. "Danke", sage ich, als David mir die Tür öffnet und drücke ihn an mich. Er ist warm und riecht nach Alkohol und David.

"Bis morgen", murmele ich ihm zu, bevor ich mich von ihm löse. Draußen ist es beißend kalt, so kalt, dass ich meine Hände vor meinem Mantel verschränke, um mich vor dem Wind zu schützen. Ich halte die Augen auf die Straße gerichtet. Diese Stadt ist winzig, was viele Nachteile hat, aber auch den Vorteil, dass so ziemlich jedes Haus in weniger als zwanzig Minuten zu Fuß zu erreichen ist. Ich laufe an Reihen von Häusern vorbei, und immer mal wieder wird mein Blick nach oben gezogen, wenn eins ihrer Fenster erleuchtet ist.

Ich denke mir Geschichten zu ihren Bewohnern aus. Da ist ein alter Mann, der noch vor dem Fernseher sitzt, weil er seit zwanzig Jahren seine Kinder nicht gesehen hat und das das einzige ist, was ihn in der Nacht von seiner Einsamkeit ablenkt. Da ist die junge Frau, die sich nachts noch einen Mitternachtssnack gönnt, weil sie am nächsten Morgen ihre Diät anfangen will und nächtliche Kalorien nicht zählen. Dann, das junge Pärchen. Ich sehe ihre verschlungenen Silhouetten am Fenster, sich langsam wiegend, als würden sie zu einer Musik tanzen, die ich nicht hören kann.

Die Silhouetten lösen sich voneinander, und ich sehe, wie der junge Mann das Gesicht seiner Freundin zu sich zieht, es in die Hände nimmt, um es zu küssen. Für einen Moment bleibe ich am Fenster stehen und denke an David. Wir könnten dieses Pärchen sein, tanzend in der Nacht, aber stattdessen bin ich hier, alleine. Ich vermisse ihn.

Plötzlich windet sich die junge Frau aus dem Kuss, und mitten in der Bewegung erkenne ich etwas Vertrautes in ihr. Ellie. Es ist die Art, wie sie ihren Kopf leicht zur Seite neigt, die scharfe Kante ihres Unterkiefers. Ihre Haare fließen ihr über die Schultern - sie muss sie aufgemacht haben - und für einen Moment habe ich das Gefühl, dass nicht nur ich sie sehen kann, sondern sie auch mich.

Oh Shit. Ich schrecke zusammen, wende mich ab. Es ist Ellie, ohne Zweifel. Und die Person, die sie geküsst hat - das ist kein junger Mann, es ist das Mädchen von vorhin. Das Mädchen, mit dem ich Ellie habe streiten sehen. Das Mädchen, wegen dem sie geweint hat.

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt