36 - Sommer

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5 Monate später. 

Ellie

Es ist gerade erst Juni geworden und trotzdem ist es jetzt schon einer der heißesten Sommer seit Jahren, vielleicht jemals, zumindest, seit ich mich erinnern kann. Neben mir liegt N auf dem Bauch und liest The Handmaid's Tale, die breite Krempe ihres Huts tief ins Gesicht gezogen. Die Sonne hat schon begonnen, ihre helle Haut zartrosa zu färben. Ich liege neben ihr auf dem breiten Handtuch auf dem Rücken, auf den Oberarmen abgestützt – zwei Sardinen in der Sonne, meine braunen neben ihren weißen Beinen. Die Luft riecht nach Sommer und Chlor, alles an mir schwitzt – meine Beine kleben am Handtuch –, in der Ferne hört man tobende Kinder kreischen.

Ich tippe N mit der Sonnencreme an und sie schaut von ihrem Buch auf. Als sie zu mir hochschaut und sich unsere Blicke treffen, habe ich das Gefühl, mein Herz könnte im nächsten Moment zerspringen. Es ist so schön mit uns, das hier, sie. Es ist alles so perfekt, dass ich immer noch jeden Moment damit rechne, dass uns etwas auseinander bricht. Dass es einfach zu gut ist, um wahr zu sein. Und dass zu gut, um wahr zu sein nicht ohne Haken kommt.

"Hier, für dich." Ich reiche ihr die Sonnencreme und Noah greift danach und setzt sich. Auf ihrem Bauch haben sich Schweißtropfen gesammelt, die sich jetzt den Weg nach unten vorbei an ihrem Nabel bahnen. "Wie kann's bitte so heiß sein?", stöhnt sie und cremt sich erst ihre Arme, dann den Nacken ein.

"Muss an dir liegen", zwinkere ich ihr zu und sie verdreht die Augen. "Du bist sowas von bescheuert", sagt sie, aber lacht dabei. Ich strahle übers ganze Gesicht. Das ist die Wirkung, die N auf mich hat, ohne besonders viel dafür tun zu müssen. Ich bin so unglaublich glücklich. Das hier muss der perfekte Tag sein.

Neben einem strahlend schönen Donnerstagnachmittag ist es außerdem der Tag vor Ns Abschlussfeier - ihr offiziell vorletzter Tag als Schülerin, bevor sie im Herbst ihr Medizinstudium beginnen wird. Als sie vor ein paar Wochen die Zusage zu einem Teil-Stipendium bekommen hat, ist sie fast ausgerastet. "Ich bin drin", hat sie gehaucht, immer und immer wieder, ihre Augen ganz feucht. Ich habe mich mit ihr gefreut, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht überrascht gewesen bin. Schließlich war Schule schon immer Noahs Fokus Nummer eins und sie hatte durchgehend Topnoten, die kleine Streberin.

Als kleine Feier, Belohnung, wie man es auch sehen will, hat sich Noah deshalb heute frei genommen. Conny hätte zwar eh nicht darauf bestanden, dass sie zum Vogelnest kommt – "Genieß die Zeit, bis es wirklich losgeht" höre ich ihre Stimme in meinen Gedanken –, aber so, wie ich N kenne, hat sie deshalb trotzdem ein schlechtes Gewissen.

Über den Elefanten im Raum haben wir noch nicht gesprochen. N wird in mein altes Studentenzimmer im Wohnheim ziehen, das hab ich so mit meinen Eltern abgeklärt. Auch wenn Noah nicht ihre eigene Tochter ist, haben sie sie inzwischen so sehr in unsere Familie aufgenommen, dass sie ihr die bestmöglichen Chancen bieten wollen. Wahrscheinlich hätten sie ihr sogar das gesamte Medizinstudium bezahlt, wenn das mit dem Stipendium nicht geklappt hätte – obwohl N es natürlich nie zugelassen hätte, eine solche Spende anzunehmen. Sie hat sich ja selbst bei meiner Studentenbude gewehrt; ich habe sie erst mit dem Argument überzeugt bekommen, dass sie meinen Eltern Bürokratie und zusätzliche Kosten erspart, wenn sie jetzt dort einzieht, weil sie sich so nicht nach einem Nachmieter umschauen müssen und eine Pauschale für eine nicht-fristgemäße Kündigung zahlen müssen.

Was ich N allerdings noch nicht erzählt habe, und was ich – soviel bin ich mir selbst bewusst – insgeheim verschiebe, ihr zu erzählen, ist, wie es mit mir weitergehen wird. Ich werde es ihr morgen erzählen, dieses Versprechen habe ich mir selbst gegeben. Der richtige Zeitpunkt ist einfach noch nicht gekommen. Ich möchte diesen wunderschönen Tag mit ihr genießen, bevor wir uns Sorgen um die Zukunft machen.

Ich strecke mich Noah entgegen, die gerade ihre Beine eincremt, und warte darauf, dass ihr meine gespitzten Lippen auffallen. Als sie einige Momente später bemerkt, dass ich auf ihren Kuss warte, lacht sie fröhlich, unbeschwert, zuckersüß, bevor sie mich küsst. Sie zieht mein Gesicht an ihres heran und ich atme eine Woge ihres Dufts ein: Süß und zitronig, vermischt mit dem Geruch von Sonnencreme. Noch dieser eine Tag. Diesen einen Tag werde ich noch warten, bevor ich ihr alles erzähle. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt