33 - Übernächtigt

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Noah

"Du siehst...so heiß aus, Noah Waller", sagt Ellie und schwankt mir in die Arme. Ich kann sie gerade noch davon abhalten, umzukippen.

"Wie viel hast du getrunken?", lache ich, als sie mir ihren süßen Glühweinatem ins Gesicht pustet.

"Tims Mitbewohner hat Glühwein gemacht", antwortet Ellie und ich bin überrascht, dass sie noch erstaunlich klare Sätze bilden kann. Ich halte sie eine Armlänge von mir entfernt, damit ich ihren Blick auffangen kann: "Ja, das kann ich riechen." Und dann: "Wer ist Tim?"

"BÄR", schreit Ellie so laut, als hätte ich eine erhebliche Gehörschwäche. "Aber sag ihm nicht, dass ich dir das verraten habe", sagt sie etwas leiser.

"Würde mir nie einfallen", entgegne ich und klopfe ihr auf die Schulter. Ich habe ihre Freunde ja nicht mal richtig kennengelernt. "Also, hattest du Spaß?", frage ich sie jetzt.

"WAHNSINNIG viel Spaß!" Sie drängt sich an mir vorbei ins Haus und sieht sich mit leicht verlorenem Blick um, "Aber jetzt brauch ich erstmal was... ich muss mich erstmal... ah!" Sie torkelt ins Wohnzimmer und lässt sich auf die Couch sinken, "Hinsetzen! Puh, tut das gut."

Ich lasse die Haustür zufallen und setze mich neben sie auf die Couch, und eine Sekunde später spüre ich ihren Kopf auf meiner Schulter. "Ich bin müde", murmelt sie in mein Haar. Ich lege einen Arm um sie und höre ihrem Atem zu, sehe dabei zu, wie sich ihre Brust in gleichmäßigem Rhythmus hebt und senkt. Sie sieht so friedlich aus.

"Schlaf schön, kleine Ellie", sage ich leise. Ich rutsche noch ein bisschen nach links und bette ihren Kopf behutsam auf meinen Schoß. Sie bemerkt es kaum und ist nach wenigen Momenten schon wieder eingeschlafen.

Ellie

Das Erste, was ich sehe, als ich aufwache, ist Noahs Gesicht aus einem Winkel, den ich nicht gewohnt bin. Von unten sehen ihre hellen Wimpern unendlich lang aus; sie umrahmen ihre blauen Augen wie kleine, fedrige Heiligenscheine.

Das Nächste, was ich wahrnehme, sind Stimmen, die ich nicht kenne. Überrascht drehe ich meinen Kopf, um dem Ursprung der Stimmen auf die Spur zu gehen und sehe, dass der Fernseher läuft – irgendeine Reality-Serie.

"Du bist ja auch schon wach", sagt Noah sanft. Sie streicht mir über mein Haar.

"Ich wusste gar nicht, dass ich geschlafen habe", entgegne ich und setze mich auf. Ich muss auf ihr geschlafen haben, auf ihrem Schoß und auf der Couch der Wallers.

"Nicht lange", lacht Noah, "Aber du warst wohl ziemlich müde." Sie streckt ihre Beine aus, dann ihre Arme, und ich schaue sie mitleidig an: "Sorry, ich hatte nicht vor...-"

"Schon okay", sagt sie und gähnt. "Ich glaube, ich hab auch ein bisschen geschlafen. Es war gar nicht so unbequem." Ich weiß, dass sie lügt, aber sie lächelt trotzdem. Sie ist so süß.

"Habe ich irgendwas Peinliches gesagt?", frage ich sie. Ehrlich gesagt kann ich mich nur noch vage daran erinnern, wie ich ins Haus der Wallers gelangt bin.

"Nur, dass ich wahnsinnig heiß bin, und dass du einen heimlichen Crush auf Sofia hast."

"WAS?" Ich reiße die Augen auf und im nächsten Moment fängt sie an, zu lachen.

"Okay, zugegebenermaßen hast du nur das Erste gesagt", sagt sie, als sie sich wieder gefangen hat. "Sorry, ich... das musste grad sein, Ellie."

"Ist okay." Ich halte mir eine Hand an die Stirn, als ein stechender Schmerz durch meinen Schädel fährt. Außerdem ist mein Mund wahnsinnig trocken. "Hast du vielleicht..."

"Ein Glas Wasser? Dad ist dir zuvorgekommen." Sie deutet auf die gefüllte Karaffe, die auf dem Couchtisch neben zwei leeren Gläsern steht.

"Warte, Ben hat mich so gesehen?" Ich versuche, den Horror in meiner Stimme zu unterdrücken. Das hat bestimmt einen wahnsinnig guten Eindruck gemacht. Noah grinst: "Keine Sorge, du hast schon geschlafen." Sie schüttet Wasser in eins der Gläser und reicht es mir. Ich trinke gierig. Wasser hat noch nie so gut geschmeckt.

"Also, bist du bereit?", fragt sie jetzt. Ich schaue sie verwirrt an: "Bereit für was?"

"Für deine Eltern, Schlafmütze." Sie gähnt erneut. "Wir haben zum Glück noch ein bisschen Zeit zum Duschen und dafür, uns umzuziehen, aber dann müssen wir auch schon los, damit wir pünktlich zum Mittagessen sind."

"Oh, scheiße." Ich weiß nicht, wie ich das habe vergessen können. Ich fühle mich definitiv nicht bereit dafür, in diesem Zustand bei meinen Eltern aufzuschlagen. Ich höre, wie sich Schritte annähern und drehe meinen Kopf. Es ist Ben Waller, er trägt ein kariertes Hemd – frisch gebügelt, mit rotem und grünem Karomuster – und sieht ungewöhnlich frisch aus. "Ach, ihr seid schon wach", sagt er, als er uns sieht, "Ellie, Noah, Kaffee?"

Ich schüttele meinen Kopf. "Später", sage ich und Noah fügt hinzu: "Danke, Dad, wir machen uns erstmal fertig." Ben zuckt mit den Schultern und nickt. "Ich koch trotzdem mal 'ne Kanne, ihr könnt euch ja dann gleich noch was holen."

Wir huschen an ihm vorbei die Treppe hoch. "Zusammen duschen?", fragt mich Noah mit einem Seitenblick. Ich nicke dankbar. "Gerne", antworte ich ihr. Im Bad angekommen ziehen wir uns schnell aus und hinterlassen einen Wäschestapel auf dem Boden. Ich bin froh, dass ich meine muffigen Klamotten los bin, und schlüpfe zu Noah unter die Dusche. Sie ist bereits dabei, sich ihre Haare einzuseifen, und ich dränge mich neben sie in die kleine Kabine, um auch etwas vom Wasserstrahl abbekommen zu können.

"Ahh!", schreie ich, als der heiße Strahl meine Haut trifft, "Woman, verbrühst du dir bei diesen Temperaturen nicht was?" Ich schrecke zurück und Noah dreht sich um und zuckt mit den Schultern: "Was, ich mag's eben gerne warm."

"Das ist nicht warm, das ist die Temperatur, bei der man Shrimps kocht", entgegne ich. Noah scheint sich daran nicht zu stören, sie lässt sich vom heißen Wasser berieseln und schließt die Augen. "Dann bin ich gerne ein Shrimp", antwortet sie und spült ihre Haare unter dem Duschkopf ab. Diese Frau, denke ich und schüttele den Kopf.

Als sie fertig ist, rückt sie ein Stück zur Seite, damit ich auch etwas vom Wasser abbekomme. Sie lässt sich sogar dazu hinreißen, die Temperatur das winzigste Bisschen kühler zu stellen, auch wenn ich immer noch das Gefühl habe, bei lebendigem Leibe gekocht zu werden. "Schön", sagt Noah und umarmt mich von hinten. Ihre Haut ist gefühlte tausend Grad heiß. Das gute daran, unter laufendem Wasser zu schwitzen, ist, dass mein Schweiß zumindest direkt mit weggewaschen wird. Trotzdem bediene ich mich an ihrem Duschgel – "Very Berry" – und schrubbe mich nochmal ordentlich ab.

"Ich bin fertig", sagt Noah neben mir und will schon aus der Dusche springen. "Noch ein Kuss?", frage ich sie und sie dreht sich nochmal zu mir um. "Okay", willigt sie ein und küsst mich. Ich halte sie zurück und ziehe sie näher an mich heran, um sie leidenschaftlicher zu küssen. Sie schlingt die Arme um meinen Hals und drückt ihren nassen Körper an meinen, dann löst sie sich aus meiner Umarmung und macht einen großen Schritt nach hinten, raus aus der Dusche.

"Ey!", protestiere ich und ihre Mundwinkel ziehen sich nach oben. "Dein Weihnachtsgeschenk bekommst du erst heute Abend", erwidert sie zwinkernd und wickelt sich in ihr Handtuch ein. Widerwillig dusche ich mich fertig ab und tue es ihr gleich. Wir ziehen uns frische Sachen an: Noah trägt eine Art rotes Latzkleid aus Cord mit einem dünnen, schwarzen Rollkragenpulli darunter und ich habe mir einen Norwegerpulli von Ben und eine schwarze Jeans von Noah ausgeliehen. Die Jeans ist mir viel zu kurz und spannt an meinen Oberschenkeln, aber für einen Tag sollte es gehen.

"Bereit?", frage ich Noah, als sie sich einen Lidstrich gezogen und sich Rouge auf die Wangen getupft hat. Sie glättet sich ein letztes Mal mit den Händen das Haar, das durch das Lufttrocknen Wellen geschlagen hat, dann nickt sie. "Ich hoff's", sagt sie und als ich ihren Blick einfange, fangen wir beide an, zu lächeln. "Wird schon", sage ich und greife nach ihrer Hand. 

Noah &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt